Etablierung der Ratsherrschaft
Die Verfassungsentwicklung Berns ist geprägt durch die Etablierung der Ratsherrschaft in Stadt und Landschaft.
Entscheidend für die verfassungsrechtliche Entwicklung Berns im späten Mittelalter war, dass es Bürgern und Rat gelang, im Verlauf des 13. und 14. Jahrhunderts eine weitgehende Autonomie zu erlangen und sich aus der Abhängigkeit römisch-deutscher Könige und Kaiser sowie der beiden in der Landgrafschaft Burgund massgeblichen adligen Lehensverbände der Grafen respektive Herzöge von Savoyen und Habsburg zu lösen.[1] Im Innern bedeuteten vor allem die Etablierung einer Ratsverfassung sowie die Wahl des Schultheissen (Schultheiss und Rat) und städtischer Amtsträger (Ratsämter und Behörden) aus dem Kreis der Bürger wichtige Voraussetzungen auf dem Weg zur kommunalen Selbstbestimmung. Während andere Städte wie Freiburg im Uechtland und Schaffhausen bis zum Ende des Mittelalters unter der unmittelbaren Herrschaft ihrer Stadtherren standen oder wie Mainz und Konstanz noch im 15. Jahrhundert Gefahr liefen, dass König und Landesherren während Unruhen in die inneren Verfassungsverhältnisse eingriffen, verstand es der Berner Rat, bis zum Ende des 14. Jahrhunderts eine weitgehende Selbständigkeit zu erringen. Bern stieg dadurch in den privilegierten Kreis einer Reichstadt auf.[2] Dies ermöglichte der Stadt im Bündnis mit eidgenössischen Orten eine weitgehende Handlungsfreiheit gegen innen wie gegen aussen sowie der Erwerb eines ausgedehnten Territoriums (Entstehung des städtischen Territoriums).
Adlige und Nichtadlige wechseln sich im Schultheissenamt ab
Zwischen 1223 und 1470 lassen sich in Bern insgesamt zwölf Verfassungsperioden unterscheiden.[3] In diesen wurde die Stadt jeweils abwechslungsweise von adligen und nichtadligen Schultheissen regiert. Obwohl es während der jährlichen Ratserneuerung an Ostern immer wieder zu Störungen des bestehenden Wahlmodus beispielsweise durch Unruhen oder die Wahl auswärtiger Adliger wie Jakob II. von Kienberg (1293-1297), gab es auch Perioden mit einer gewissen Kontinuität im städtischen Regiment. In diesen gelang es jeweils einer kleinen Gruppe regierender Geschlechter, sich gegen die konkurrierenden Familien durchzusetzen und die oppositionellen Kräfte im Rat der Zweihundert (Rat der Zweihundert) für längere Zeit zu neutralisieren. Besonders erfolgreich waren in dieser Hinsicht der Notabel Konrad Münzer und sein Sohn Laurenz mit einer Amtszeit von 21 Jahren (1298-1319), Ludwig von Seftigen und Peter (V) von Krauchthal mit 25 Jahren (1393-1418) sowie der von auswärts zugezogene Ritter Rudolf Gräfli, genannt Hofmeister, mit 28 Jahren (1418-1446).
Soziale Aufsteiger fordern eine Teilhabe am Regiment
Je länger die Amtszeiten der Schultheissen dauerten, desto stärker machten sich jedoch sozialen Veränderungen innerhalb der Bürgerschaft bemerkbar. Insbesondere die sozial aufsteigenden Kaufmanns- und Handwerkerfamilien forderten am Regiment beteiligt zu werden. Damit wuchs die Gefahr, dass es erneut zu einem Wechsel im Schultheissenamt kommen würde. Dies zeigte sich im gewaltsamen Sturz des Schultheissen Johannes II. von Bubenberg im Jahr 1350 (Amtsenthebung Johannes II. von Bubenberg 1350) und den jeweils umstrittenen Schultheissenwahlen seiner drei Söhne Johannes III. (1364-1367), Ulrich II. (1367-1381) und Otto (1383-1393). Offenbar konnte sich ein Teil der Bürger mit der Wahl eines Angehörigen der von Bubenberg nicht abfinden. Sie versuchten deshalb, die regierenden Geschlechter mit Gewalt zu stürzen. Während Johannes III. sein Amt 1364 nur nach der Vertreibung des Notabeln Konrad vom Holz hatte antreten können, kam es ein Jahr nach der Wahl Ulrichs II. von Bubenberg 1367 und seines Bruders Otto 1383 ebenfalls zu grösseren Protestaktionen der Zünfte (Zünfte und Gesellschaften).[4] Diese führten 1384 dazu, dass der Kleine Rat bis auf zwei Mitglieder abgewählt und durch neue, bisher vom Regiment ausgeschlossene Männer ersetzt wurde.
Schuldenpolitik des Rats provoziert Unruhen
Die Ursache dieser innerstädtischen Auseinandersetzungen war, ähnlich der Entwicklung in anderen Städten im Reich, die von den führenden Ratsfamilien betriebene Darlehens- und Steuerpolitik (Schuldenpolitik des Rats im 14. Jahrhundert). In Bern führte vor allem das expansive Ausgreifen auf die Landschaft seit der Mitte des 14. Jahrhunderts zu einer Überbeanspruchung des kommunalen Finanzhaushalts und zu einer zunehmenden Polarisierung der im Rat der Zweihundert vertretenen sozialen Gruppen. Obwohl es bernischen Zünften im Unterschied zu jenen in so genannten Zunftstädten wie Zürich oder Basel nicht gelang, eine in der Stadtverfassung festgelegte Beteiligung an den Ratswahlen zu erhalten, bildeten die ökonomisch führenden Gesellschaften seit der Ratsentsetzung von 1384 (Ratsentsetzung von 1384) die Rekrutierungsbasis für alle wichtigen Ratsämter (Politische Bedeutung der Zünfte). Die Handwerkszünfte (Handwerksgesellschaften) der Metzger, Gerber, Schmiede und Pfister entwickelten sich auf diese Weise zu den vier Vennergesellschaften (Vennergesellschaften), denen seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert eine verfassungsrechtliche Sonderstellung in der Stadt Bern zukam.
Roland Gerber, 13.11.2011
[1] Rainer Christoph Schwinges: Bern - eine mittelalterliche Reichsstadt? in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 53 (1991), S. 5-19.
[2] Richard Feller: Geschichte Berns, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1516, Bern 1946, S. 101-491.
[3] Roland Gerber: Städtebau und sozialer Wandel. Die Abhängigkeiten von Ratsherrschaft und Stadtgestalt im spätmittelalterlichen Bern, in: Städteplanung – Planungsstädte, hg. von Bruno Fritzsche, Hans-Jörg Gilomen und Martina Stercken, Zürich 2006, S. 81-99, hier 83-86.
[4] Kathrin Utz Tremp: Die befleckte Handfeste. Die innerstädtischen Unruhen im Spiegel der spätmittelalterlichen bernischen Chronistik, in: Die Schweiz im Mittelalter in Diebold Schillings Spiezer Bilderchronik, hg. von Hans Häberli und Christoph von Steiger, Luzern 1991, S. 135-150.