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Entstehung des städtischen Territoriums

Der Erwerb des städtischen Territoriums ermöglichte es dem Rat, viel stärker als dies bei anderen Städten der Fall war auf die finanziellen und militärischen Ressourcen der Landbevölkerung zuzugreifen.

Bern erwarb wie andere Städte Oberdeutschlands und der heutigen Schweiz innerhalb weniger Jahrzehnte ein ausgedehntes Territorium.[1] Dieses war jedoch bedeutend grösser als jenes benachbarter Orte. Keine andere Stadt nördlich der Alpen verfügte im Spätmittelalter über ein ähnlich grosses Untertanengebiet wie Bern.[2] Dieses gliederte sich um 1460 in 23 Ämter und Landvogteien. Bis 1555 kamen dann noch einmal etwa 30 Vogteien dazu. Daneben bestanden seit dem 14. Jahrhundert zahlreiche geistliche und weltliche Twingherrschaften (Twingherren), die nur mittelbar der Gebotsgewalt der Stadt unterstanden. Der Humanist und Dekan des Klosters Einsiedeln Albrecht von Bonstetten bemerkte in seiner um 1479 verfassten «Beschreibung der Eidgenossenschaft», dass sich Bern gegenüber anderen Städten durch ein ausserordentlich grosses Territorium auszeichnete. Als besonders erwähnenswert bezeichnete er die Diskrepanz zwischen der verhältnismässig kleinen Einwohnerzahl der Stadt (Bevölkerungs- und Stadtentwicklung) und der Grösse des von ihr beherrschten Territoriums: Bern ist ouch an im selbs nit volkrich, dann (als ich gloub) die vierundzwenzig grafschaften und herschaften mechtig ist, us denen sy sich zwenzig tusent gewaptner zum stritte furen verjehent. Sy überherschent schier und den meren teil der Ergöwern und ouch vil tellern, der nammen ich allhie durch kurze willen fürgan.[3]

Landbevölkerung saniert den Stadthaushalt

Der Besitz des ausgedehnten Territoriums ermöglichte es Schultheiss und Rat, viel stärker als in anderen Städten auf die finanziellen und militärischen Ressourcen der Landbevölkerung zuzugreifen.[4] Sowohl die Sanierung des überschuldeten Stadthaushalts (Sanierung des Stadthaushalts im 15. Jahrhundert) als auch die kostspieligen Kriegszüge und Herrschaftskäufe (Herrschaftsbildung auf dem Land 1298 bis 1415) führten dieser mit Hilfe der in den Vogteien ansässigen Bevölkerung durch. Diese stellte Steuergelder und Kriegsmannschaften zur Verfügung, um im Bündnis mit eidgenössischen Orten eine vom königlichen Stadtherren zunehmend eigenständige Politik zu betreiben und die umliegenden Adels- und Klosterherrschaften der eigenen Landeshoheit zu unterwerfen. Erst mit dem Abschluss des Twingherrenvertrags von 1471 (Twingherrenstreit 1470/71) und der Säkularisation der geistlichen Grund- und Gerichtsherrschaften nach der Reformation 1528 war es dem Rat jedoch möglich, im gesamten Territorium die alleinige Landesherrschaft und damit die ausschliessliche Gebotsgewalt über Land und Leute auszuüben. Die säkularisierten Klosterherrschaften wurden in Landvogteien umgewandelt oder sie wurden – vor allem wenn es sich um kleinere Herrschaften handelte – in bestehende Vogteien integriert.[5] Nur einige wenige, grössere weltliche Twingherrschaften wie jene von Worb, Oberdiessbach und Hallwil blieben bis zum Ende des Ancien Régime 1798 bestehen. Das expansive Ausgreifen Berns auf die Landschaft bewirkte eine aussergewöhnlich dichte soziale, ökonomische und politisch-herrschaftliche Verflechtung der Stadt- mit der Landbevölkerung (Soziale Beziehungen zwischen Ausbürgern und Stadtbewohnern). Diese kann als Besonderheit der bernischen Stadtentwicklung während des Spätmittelalters bezeichnet werden.

Ende der Grafen von Kiburg

Das herrschaftliche Ausgreifen Berns auf die Landschaft war jedoch weder ein kontinuierlicher Prozess noch war die Entstehung des städtischen Territoriums das Ergebnis eines in Quellen nachweisbaren Willens der führenden Ratsgeschlechter zur «Beherrschung des ganzen Aarelaufs von der Quelle bis zur Mündung in den Rhein».[6] Vielmehr verlief die städtische Umlandpolitik bis zum Ende des 14. Jahrhunderts noch weitgehend defensiv und richtete sich nach der im Bundesbrief von 1353 unter den eidgenössischen Orten vereinbarten Aufteilung der gegenseitigen Interessenssphären in einen östlichen und einen westlichen Bereich (Ausbau und Sicherung der hegemonialen Stellung 1298 bis 1383).[7] Erst nach dem Kauf der beiden kiburgischen Residenzen Burgdorf und Thun 1384 sowie der vernichtende Niederlage eines habsburgischen Ritterheers bei Sempach gegen die Waldstätte am 9. Juli 1386 gab der Rat seine bisherige, vor allem auf die Durchsetzung der eigenen wirtschaftlichen und herrschaftlichen Interessen gerichtete Politik auf und begann, die Hoheitsrechte der Grafen von Kiburg in ihrer Gesamtheit zu liquidieren.[8] Ohne österreichischen Schutz brach die Landesherrschaft der Grafen weitgehend zusammen, worauf alle wichtigen Adels- und Klosterherrschaften im Gebiet der Landgrafschaft Burgund in Abhängigkeit der Stadt gerieten. Ernsthafte Konkurrenz erwuchs der Stadt nur noch in den Bürgern Freiburgs im Uechtland. Aber auch diese schaltete der Rat durch entschlossenes militärisches Vorgehen aus. Zwischen 1386 und 1391 annektierten bernische Kriegsmannschaften die freiburgischen Besitzungen im Oberland (Herrschaften Blankenburg, Laubegg und Simmenegg, Stadt Unterseen) und im Seeland (Herrschaften Nidau und Büren). 1399 folgten der Kauf der kiburgischen Freiherrschaft Signau, 1400 der Talschaft Frutigen, 1407 bis 1413 der Oberaargauer Herrschaften Wangen, Bechburg und Bipp (bis 1463 gemeinsamer Besitz mit Solothurn), 1408 der Herrschaften Trachselwald und Huttwil im Emmental sowie 1412 der Herrschaft Oltigen an der Sense.

Aufstieg zum «fürstlichen» Territorium

Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wandelte sich die auf die Sicherung der eigenen hegemonialen Stellung ausgerichtete Umlandpolitik Berns des 14. Jahrhunderts schliesslich zu einer expansiven, auf die Beherrschung ganzer Landstriche ausgerichteten fürstlichen Territorialpolitik (Von der Umland- zur Territorialpolitik 1384 bis 1415). Die Eroberung des Aargaus 1415 (Eroberung des Aargaus 1415) bildete den ersten grossen Landerwerb, bei dem der Rat nicht auf äussere Bedrohungen reagierte oder die Geldnot adliger Gerichtsherren zur Durchsetzung eigener herrschaftlicher Interessen nutzte, sondern in Konkurrenz mit den verbündeten Eidgenossen eine aggressive Erweiterung des städtischen Herrschaftsgebiets betrieb. Nach 1415 verstärkte der Rat ausserdem seine Bemühungen, das bislang erworbene Territorium herrschaftlich und wirtschaftlich zu durchdringen sowie gegenüber benachbarter Herrschaftsträger rechtlich abzugrenzen (Konsolidierung des Erreichten 1416 bis 1450). Entsprechend zeigte er sich bestrebt, gerade in jenen Gebieten, wo er zwar die Blutgerichtsbarkeit und das damit verbundene Mannschafts- und Steuerrecht beanspruchte, bislang aber nur über wenige Niedergerichte verfügte, weitere Gerichtsherrschaften für die Ausstattung neuer Landvogteien zu erwerben. Ausdruck dieser gegenüber dem 14. Jahrhundert gewandelten Ratspolitik waren der Erwerb aller landgräflichen Hoheitsrechte in der Landgrafschaft Burgund zwischen 1406 und 1426 sowie der Aufbau einer flächendeckenden Vogteiverwaltung auf dem Land. Vorläufig abgeschlossen wurde die spätmittelalterliche Herrschaftsbildung auf dem Land durch die Erneuerung der eidgenössischen Bündnisse nach dem Ende des Alten Zürichkriegs 1450. Mit dem Scheitern der habsburgischen Restitutionspläne über den Aargau etablierten sich die eidgenössischen Orte endgültig als neue Landesherren im Gebiet zwischen Alpen und Rhein.[9]

Roland Gerber, 08.11.2017



[1]    Zur Entstehung des bernischen Territoriums im 14. und 15. Jahrhundert vgl. Emil Blösch: Die geschichtliche Entwicklung der Stadt Bern zum Staate Bern, in: Festschrift zur VII. Säkularfeier der Gründung Berns 1191-1891, Bern 1891, S. 1-97; Richard Feller: Geschichte Berns, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1516, Bern 1946, S. 175-248; Fritz Häusler: Von der Stadtgründung bis zur Reformation, in: Illustrierte Berner Enzyklopädie, Bd. 2: Geschichte, Bern 1981, S. 62-75; Hans A. Michel: Das alte Bern und sein Verhältnis zum Land, in: Stadt und Land. Die Geschichte einer gegenseitigen Abhängigkeit, hg. von Maja Silvar, Bern/Frankfurt am Main 1988, S. 115-150; sowie als Synthese Christian Hesse: Expansion und Ausbau. Das Territorium Berns und seine Verwaltung im 15. Jahrhundert, in: BGZ, S. 330-348.

[2]    Zur Entstehung städtischer Territorien im Spätmittelalter vgl. Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250-1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, S. 237-244; Katharina Reimann: Untersuchungen über die Territorialbildung deutscher Reichs- und Freistädte, Breslau 1935; Elisabeth Raiser: Städtische Territorialpolitik im Mittelalter. Eine vergleichende Untersuchung ihrer verschiedenen Formen am Beispiel Lübecks und Zürichs (Historische Studien 406), Lübeck/Hamburg 1969; Peter Blickle: Zur Territorialpolitik der oberschwäbischen Reichsstädte, in: Stadt und Umland, hg. von Erich Maschke und Jürgen Sydow, Stuttgart 1974, S. 54-71; sowie Wolfgang Leiser: Territorien süddeutscher Reichsstädte. Ein Strukturvergleich, in: Zeitschrift für Bayrische Landesgeschichte 38 (1975), S. 967-981.

[3]    Albrecht Büchi (Hg.): Albrecht von Bonstetten. Beschreibung der Schweiz, in: Quellen zur Schweizer Geschichte 13, Basel 1893, S. 225; sowie Urs Martin Zahnd, Das wirtschaftliche und soziale Umfeld Bendicht Tschachtlans, in: Tschachtlans Bilderchronik. Kommentar zur Faksimile-Ausgabe der Handschrift Ms. A 120 der Zentralbibliothek Zürich, hg. von Alfred A. Schmid, Luzern 1988, S. 13-25, hier 13.

[4]    Einen Vergleich der Territoriumsbildung zwischen Bern und Nürnberg macht Rudolf Endres (Hg.): Nürnberg und Bern. Zwei Reichsstädte und ihre Landgebiete (Erlanger Forschungen, Reihe A, Bd. 46), Erlangen 1990.

[5]    Vgl. dazu Ernst Walder: Reformation und moderner Staat, in: 450 Jahre Reformation. Beiträge zur Geschichte der Berner Reformation und zu Niklaus Manuel (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 64/65), Bern 1980/81, S. 441-583.

[6]    Heidi Schuler-Alder, Reichsprivilegien und Reichsdienste der eidgenössischen Orte unter König Sigmund 1410 bis 1437 (Geist und Werk der Zeiten 69), Bern 1985, S. 25. Richard Feller spricht in diesem Zusammenhang von einem «Leitgedanken»; Richard Feller, Geschichte Berns. Bd. 1: Von den Anfängen bis 1516, Bern 1946, S. 242.

[7]    SSRQ Bern Stadt III, Nr. 75, S. 159-170.

[8]    Karl H. Flatt: Das Haus Habsburg und der Oberaargau vor und im Sempacherkrieg, in: Jahrbuch des Oberaargaus 29 (1986), S. 71-74.

[9]    Bernhard Stettler: Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner. Zürich 20

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