Migrationsräume
Die Migrationsräume dokumentieren die grosse Mobilität, die einzelne spezialisierte Berufsgruppen, aber auch einfache Dienstleute und Bettler besassen.
Kernmigrationsraum
Der Kernmigrationsraum bildet die nähere Umgebung der Stadt Bern. Die Einwohner des stadtnahen Umlands sind sowohl politisch, rechtlich und ökonomisch als auch sozial über zahlreiche persönliche und herrschaftliche Beziehungen eng mit der Stadtbevölkerung verbunden (Soziale Beziehungen zwischen Ausbürgern und Stadtbewohnern).[1] Von den rund 260 Personen, die im Tellbuch von 1448 (Tellbuch von 1448) einem Herkunftsort zugeordnet werden können, stammen rund 95 Prozent aus einem Ort im heutigen Kantonsgebiet.[2] Die Ausdehnung dieses Migrationsraumes beträgt zwischen 20 und 30 Kilometern. Die Zuwanderung aus den Dörfern übertrifft jene aus den Städten und macht über 90 Prozent der nachweisbaren Migrationen aus.[3] Entsprechend dieses Übergewichts der ländlichen Herkunftsorte finden sich im 15. Jahrhundert kaum spezialisierte Handwerker oder Akademiker, die aus dem engeren Herrschaftsgebiet nach Bern übersiedelten. Eine Ausnahme ist die Stadt Thun. Hier lebten während des 15. Jahrhunderts vier als Magister bezeichnete Schulmeister, die auch in der Berner Lateinschule tätig waren.[4]
Nahmigrationsraum
Der nahe Migrationsraum umspannt den näheren Einflussbereich der Eidgenossenschaft. Er liegt zwischen 30 und 150 Kilometern von Bern entfernt und wird im Norden durch den Rhein und im Süden durch Rhone und Genfersee begrenzt. Aus diesem Raum stammen nur noch etwa drei Prozent der im Tellbuch von 1448 mit Herkunftsangaben bezeichneten Stadtbewohner. Die Herkunftsorte verteilen sich nicht gleichmässig um die Stadt, sondern konzentrieren sich auf das Gebiet der heutigen Deutschschweiz. Die Sprachgrenze war somit für Bern, wie dies auch für andere spätmittelalterliche Städte nachgewiesen werden kann, ein Hindernis bei der Zuwanderung.[5] Im zweiten Migrationsraum machen die Städte bereits über zwei Drittel der Herkunftsorte aus, während die ländlichen Orte mit den grösser werdenden Entfernungen immer mehr zurücktreten.[6] Auffällig für diesen Migrationsraum ist die Nennung von sechs Schulmeistern, die alle im Verlauf des 15. Jahrhunderts an der bernischen Lateinschule tätig waren.[7] Neben dem aargauischen Kleinstädtchen Brugg, aus dem der Stadtschreiber Niklaus Fricker und sein Sohn Thüring Fricker stammten, besass vor allem Basel als Tor zum elsässisch-schwäbischen Wirtschaftsraum eine grössere Bedeutung als Zuwanderungsort.
Fernmigrationsraum
Der ferne Migrationsraum ist überwiegend ökonomisch geprägt und gliedert sich in einen südlichen und nördlichen Bereich. Der nördliche Teil besteht aus Oberdeutschland mit den Wirtschaftszentren Frankfurt, Strassburg, Nürnberg, Ulm und Augsburg, während der südliche Teil die Lombardei und das Piemont umfasst. Er befindet sich zwischen 150 und 400 Kilometern von Bern entfernt und wird im Norden durch den Main, im Osten durch den Inn und im Süden durch den Po begrenzt. Als Herkunftsorte erscheinen vorwiegend Städte, die in der Regel über 1‘000 Einwohner zählten. Die vorwiegend wirtschaftliche Ausrichtung des dritten Migrationsraumes zeigt sich in der Nennung von insgesamt 14 spezialisierten Handwerkermeistern und Handwerksgesellen, die sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts in Bern niedergelassen haben. Neben einem Kannengiesser, Kürschner, Windenmacher, Steinmetzen, Bildhauer und Holzschnitzer finden sich in den Quellen auch verschiedene Angehörige des Textilgewerbes wie ein Walker, Tuchfärber und zwei Wollweber sowie je ein Schneidermeister aus Thann und Sarrebourg im heutigen Frankreich. Eine wichtige Rolle als Herkunftsort spielte zudem die schwäbische Reichsstadt Rottweil, aus der neben einem Steinmetzen, Zimmermann und Pulvermacher mit Konrad Justinger und Valerius Anshelm nicht weniger als zwei bernische Chronisten stammten. Die kontinuierliche Zuwanderung von Oberdeutschland nach Bern zeigt sich auch darin, dass im Tellbuch von 1448 insgesamt zwei Dienstmädchen, zwei Bettlerinnen und ein Bettler genannt werden, die alle aus elsässisch-schwäbischen oder hessischen Städten stammten. Bettler und Dienstmädchen zählten im Unterschied zu Ärzten und Baumeistern zwar nicht zu den spezialisierten Berufen, die Not zwang sie jedoch, immer wieder auch grössere Distanzen zurückzulegen, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten.[8]
Norditalien
Der südliche Bereich des fernen Migrationsraumes zeichnet sich durch eine verstärkte Spezialisierung der migrierenden Berufsgruppen aus. Neben Ärzten und Apothekern waren es vor allem Kaufleute und Geldhändler, die während des 15. Jahrhunderts aus Norditalien nach Bern übersiedelten.[9] Die berühmtesten Vertreter dieser Berufsgruppe sind die italienischen Geldkaufleute Jakob May und sein Sohn Bartholomäus, die es im Verlauf des 15. Jahrhunderts zu Wohlstand brachten (Geldhändler und Wechsler).[10] Den spezialisierten handwerklichen Fähigkeiten von Lombarden war es schliesslich auch zu verdanken, dass um 1466 in Worblaufen die erste bernische Papiermühle in Betrieb genommen werden konnte.[11]
Norddeutschland
Eine ähnlich spezialisierte Berufsstruktur wie Norditalien weist auch der nördliche Migrationsraum auf. Er schliesst an den Main an und liegt mindestens 400 Kilometer von Bern entfernt. Aus diesem Raum stammen neben drei Stadtärzten mit Stefan Hurder aus Passau und Erhard Küng aus dem westfälischen Stadtlohn zwei prominente Münsterwerkmeister des 15. Jahrhunderts (Pfarrkirche von St. Vinzenz).[12] Alle diese spezialisierten Handwerker und Akademiker erlernten ihren Beruf ausserhalb Berns und waren von Schultheiss und Rat (Schultheiss und Rat) wegen ihren besonderen Fähigkeiten zu erleichterten Niederlassungs- und Einbürgerungsbedingungen (Aufnahme ins Bürgerrecht) in die Stadt berufen worden.
Roland Gerber, 13.11.2017
[1] Zu den vielfältigen sozialen Beziehungen zwischen Stadt- und Landbevölkerung Berns vgl. Simon Teuscher: Bekannte - Klienten - Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500 (Norm und Struktur 9), Köln/Weimar/Wien 1998, S. 115-179.
[2] Dieser Anteil ist ein Minimalwert, da die von weither migrierenden Personen weitaus häufiger einem Herkunftsort zugeordnet werden können, als die Zuwanderer aus der Nachbarschaft Berns, deren Herkunft in den Steuerbüchern nur selten angegeben wird.
[3] In Freiburg im Uechtland stammten die meisten Neubürger zwischen 1341 und 1416 aus Weilern und Dörfern im Umkreis von rund 15 Kilometern um die Stadt; Urs Portmann: Die Datenbank «Freiburger Bürgerbuch 1341-1416» als Forschungsinstrument: Herkunft der Bewohner Freiburgs im 14. Jahrhundert, in: Freiburg – Die Stadt und ihr Territorium. Politische, soziale und kulturelle Aspekte des Verhältnisses Stadt-Land seit dem Spätmittelalter, hg. von Gaston Gaudard u.a. (Akten des Kolloquiums der Universität Freiburg zur 500-Jahrfeier des Eintritts von Freiburg in die Eidgenossenschaft), Fribourg 1981, S. 113.
[4] Urs Martin Zahnd: Die Bildungsverhältnisse in den bernischen Ratsgeschlechtern im ausgehenden Mittelalter. Verbreitung, Charakter und Funktion der Bildung in der politischen Führungsschicht einer spätmittelalterlichen Stadt (Schriften der Berner Burgerbibliothek 14), Bern 1979, S. 63f.
[5] Bruno Koch: Neubürger in Zürich. Herkunft und Entwicklung der Bürgerschaft der Stadt Zürich im Spätmittelalter 1350 bis 1550, Dissertation maschinenschriftlich, Bern 1999, S. 131-133.
[6] Rolf Portmann kann für Basel feststellen, dass sich der Anteil der aus Städten und Dörfern zugewanderten Neubürger im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts immer deutlicher zugunsten der Städte verschoben hat; Rolf E. Portmann: Basler Einbürgerungspolitik 1358-1798 mit einer Berufs- und Herkunftsstatistik des Mittelalters (Basler Statistik 3), Basel 1979, S. 79f.
[7] Zu den Schulmeistern an der bernischen Stadtschule vgl. Adolf Fluri: Die bernische Stadtschule und ihre Vorsteher bis zur Reformation. Ein Beitrag zur bernischen Schulgeschichte, in: Berner Taschenbuch (1893/94), S. 51-112; sowie Urs Martin Zahnd: Die Bildungsverhältnisse in den bernischen Ratsgeschlechtern im ausgehenden Mittelalter. Verbreitung, Charakter und Funktion der Bildung in der politischen Führungsschicht einer spätmittelalterlichen Stadt (Schriften der Berner Burgerbibliothek 14), Bern 1979.
[8] Vgl. dazu Barbara Studer: Adlige Damen, Kauffrauen und Mägde. Zur Herkunft von Neubürgerinnen in spätmittelalterlichen Städten Süddeutschlands und der Schweiz, in: Migration in die Städte. Ausschluss – Assimilierung – Integration – Multikulturalität, hg. von Hans-Jörg Gilomen, Anne-Lise Head-König und Anne Radeff (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 16), Zürich 2000, S. 39-55, hier 46-49.
[9] Zu den bernischen Stadtärzten vgl. Yvonne Thurnheer: Die Stadtärzte und ihr Amt im alten Bern (Berner Beiträge zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 4), Bern 1944; sowie zu den mittelalterlichen Medizinalberufen im Allgemeinen Rudolf Schmitz, Stadtarzt – Stadtapotheker im Mittelalter, in: Stadt und Gesundheitspflege, hg. von Bernhard Kirchgässner und Jürgen Sydow (Stadt in der Geschichte 9), Sigmaringen 1982, S. 9-25.
[10] Im Tellbuch von 1494 versteuerte Bartholomäus May für seinen Haushalt an der Münstergasse ein Vermögen von rund 13‘300 Gulden; Emil Meyer (Hg.): Das Tellbuch der Stadt Bern aus dem Jahre 1494, in: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 30 (1930), S. 147-224, S. 161. Zur Geschichte der Familie May vgl. A. von May: Bartholomeus May und seine Familie, in: Berner Taschenbuch (1874), S. 1-178.
[11] Adolf Fluri: Die Papiermühle «zu Thal» bei Bern und ihre Wasserzeichen 1466-1621, in: Neues Berner Taschenbuch (1896), S. 192-236.
[12] Zu den bernischen Münsterbaumeistern vgl. Paul Hofer: Baumeister im alten Bern (Berner Jahrbuch), Bern 1970. Zum Münsterbau im Allgemeinen vgl. Kdm Bern IV; sowie Peter Kurmann: «Maria! Hilf dir selber zu dinem Buwe». Das Berner Münster, seine Baugeschichte und Ausstattung, eine Darstellung mit zwei Rundgängen, in: BGZ, S. 421-444.