Hindernisfreie ÖV-Haltestellen
Das Eidgenössische Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) gibt vor, dass Haltestellen des öffentlichen Verkehrs so ausgestaltet sein müssen, dass ein autonomer Zugang zum Fahrzeug möglich ist. Daher werden die rund 408 Bus- und Tramhaltekanten im Besitz der Stadt Bern in den kommenden Jahren an die Vorgaben der Hindernisfreiheit angepasst. Im Frühling 2024 hat die Stadtberner Stimmbevölkerung dem Kredit zur Finanzierung der grossflächigen Umgestaltungsarbeiten an den weiteren Haltestellen zugestimmt.
Aktuelle Situation
Gemäss den Vorgaben des BehiG müssen öffentliche Verkehrsmittel für Menschen mit Behinderung ohne fremde Hilfe zugänglich sein. Aktuell ist dieser sogenannt autonome Zugang nicht flächendeckend gewährleistet: Wer einen Bus oder ein Tram nutzen will, hat eine Höhendifferenz von mehreren Zentimetern zwischen der Haltekante und dem Einstiegsbereich des Fahrzeugs zu überwinden. Menschen im Rollstuhl sind somit auf die Unterstützung des Fahrpersonals und auf eine kurzfristig angebrachte Rampe angewiesen, um das öffentliche Verkehrsmittel nutzen zu können. Für Personen mit schwerem Gepäck oder Kinderwagen ist der Zugang ebenfalls beschwerlich.
Bauliche Anpassungen zugunsten der Hindernisfreiheit
Damit Menschen mit Rollstuhl oder Rollator Bus und Tram selbstständig nutzen können, muss der Zugang zum Fahrzeug ebenerdig sein. Die bestehenden Haltekanten der Bus- und Tramhaltestellen in der Stadt Bern werden daher – auf der ganzen Länge des Perrons oder wenigstens in einem bestimmten Bereich – um einige Zentimeter erhöht, sodass keine unüberwindbaren Niveaudifferenzen zum Einstiegsbereich des Fahrzeugs mehr bestehen. An den Bushaltestellen kommt zudem ein speziell geformter Randstein zum Einsatz, der es möglich macht, dass der Bus nahe an die Haltekanten heranfahren kann, ohne dass dabei das Fahrzeug beschädigt wird. Für Menschen mit Sehbehinderung sollen die Auffindbarkeit des Einstiegsbereichs und die Orientierung an der Haltestelle verbessert werden.
Bei den Umbauarbeiten gilt es haltestellenspezifische Aspekte wie Denkmalschutz, Vegetation, geografische Lage, Verkehrssicherheit und die Bedürfnisse weiterer Verkehrsteilnehmender – wie beispielsweise der Velofahrerinnen und Velofahrer – zu berücksichtigen. Daher muss jede Haltestellensanierung individuell projektiert und das konkrete Umfeld berücksichtigt werden. Die Vorgaben der Hindernisfreiheit und die Erhöhung der Haltekanten ziehen zudem weitere bauliche Anpassungen an den Haltestellen nach sich. Dies sind beispielsweise:
- Anpassungen am bestehenden Haltestellenumfeld, z.B. Anpassungen an Zufahrten und Eingangsbereichen zu bestehenden Liegenschaften, Anpassung von Strassenentwässerung und Strassenbeleuchtung
- Verbreiterung der Haltestelle und Anpassungen an der Haltestelleninfrastruktur, sodass Menschen im Rollstuhl ausreichend Manövrierfläche zur Verfügung steht
- Anpassungen an der Haltestelle, damit die definierten Maximalgefälle eingehalten werden können, da Flächen ab einem bestimmten Gefälle für Menschen mit Rollstuhl oder Rollator nur unter grosser Kraftanstrengung befahrbar sind
- Anpassung der taktil-visuellen Markierungen an der Haltestelle und einheitliche Gruppierung der Haltestellenausstattung; dies ermöglicht Sehbehinderten eine bessere Orientierung
- Um Synergien zu nutzen, werden nach Möglichkeit die Bedürfnisse weiterer Anspruchsgruppen berücksichtigt, z.B. durch den Bau von Veloumfahrungen
Vorgehen
Da Definition und Verhältnismässigkeit von «Hindernisfreiheit» lange Zeit nicht geklärt waren und bis vor wenigen Jahren keine bautechnischen Standards für die hindernisfreie Ausgestaltung der ÖV-Haltestellen existierten, können die meisten Schweizer Städte die gesetzlich geforderte Frist bis 2023 nicht einhalten. Das gilt auch für die Stadt Bern. Zeitintensive Bewilligungsprozesse, Einsprachen und die Berücksichtigung zusätzlicher Bedürfnisse erhöhen die Komplexität der einzelnen Bauvorhaben und können zu Verzögerungen im weiteren Projektverlauf führen.
Pro Jahr können in der Stadt Bern nur rund 10 Haltestellen umgebaut werden – einerseits wegen fehlender personeller Ressourcen, andererseits aber auch aus Gründen der Netzverträglichkeit des öffentlichen Verkehrs. Da nicht alle Haltestellen gleichzeitig umgebaut werden können, wurde in Abstimmung mit den Behindertenorganisationen eine Priorisierung vorgenommen – anhand folgender Kriterien:
- Umsteigebeziehungen
- Nähe zu Institutionen für ältere Menschen und Menschen mit Behinderung
- Anzahl ein- und aussteigender Personen pro Tag
Von den zurzeit 408 Bus- und Tramhaltestellen in der Stadt Bern sind deren 89 bereits nach den Anforderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes ausgestaltet und deren 146 werden im Zuge von geplanten Sanierungs- oder Neugestaltungsprojekten angepasst: In diesen Fällen ist die Anpassung der ÖV-Haltestelle Teil eines Gesamtprojekts; die hindernisfreie Anpassung dieser Haltestellen wird über die entsprechenden Projektkredite finanziert.
94 weitere Haltestellen weisen eine hohe Fahrgastfrequenz auf, sind wichtige Umsteigeorte und/oder liegen in direkter Nähe einer Alters-, Behinderten- oder Bildungsinstitution. Ihre hindernisfreie Umgestaltung hat eine entsprechend hohe Priorität – das wird auch von den Behindertenfachverbänden so eingeschätzt. Weil zudem im Perimeter dieser Haltestellen keine mittelfristigen Sanierungs- oder Neugestaltungsprojekte geplant sind, erfolgt ihre hindernisfreie Umgestaltung im Rahmen eines eigenständigen Projekts.
2020 wurden im Rahmen dieses Projekts bereits vier Pilothaltestellen umgestaltet – dabei konnten wichtige Erkenntnisse für die grossflächigen Umbauarbeiten gesammelt werden.
Die Umgestaltung der übrigen 94 Haltestellen wird im Rahmen eines separaten UHR-Projekts «Anpassung ÖV-Haltestellen» erfolgen. Dem Umgestaltungskredit haben die Berner Stimmberechtigten im Frühling 2024 zugestimmt. Die Arbeiten werden bis circa 2035 dauern.
Wieso genügt der Zugang zum ÖV via Klapprampe den Anforderungen des Eidgenössischen Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) nicht?
Die ÖV-Haltestellen müssen gemäss BehiG grundsätzlich so ausgestaltet werden, dass alle Menschen autonom, d.h. ohne die Hilfe einer Zweitperson, ins Fahrzeug gelangen können. Für Menschen mit Rollstuhl oder Rollator ist hierzu ein ebenerdiger Zugang zwischen Perron und ÖV-Fahrzeug nötig. Für Menschen mit Sehbeeinträchtigung soll die Auffindbarkeit des Einstiegsbereichs gewährleistet werden.
Wenn ein autonomer Zugang aufgrund örtlicher oder technischer Gegebenheiten nicht oder nur mit unverhältnismässigem Aufwand umsetzbar ist, soll ein teilautonomer Zugang zum Fahrzeug (selbstständiger Zugang nur in einem bestimmten Bereich des Fahrzeugs möglich) sichergestellt werden. Wird auch ein teilautonomer Zugang als nicht umsetzbar erachtet, wird die Verschiebung der Haltestelle geprüft. Erst wenn auch eine Verschiebung der Haltestelle als nicht verhältnismässig eingestuft wird, erfolgt der Zugang unter Hilfestellung des Fahrpersonals und mittels kurzfristig angebrachter Rampe. In diesem Fall wird von einem hindernisfreien, aber nicht autonomen (d.h. selbstständigen) Zugang gesprochen.
Nach welchen Kriterien wird definiert, ob der Umbau einer Haltestelle verhältnismässig ist?
Die Frage der Verhältnismässigkeit lässt sich nicht anhand fix definierter Richtwerte (z.B. Umbaukosten im Verhältnis zur durchschnittlichen Anzahl der Nutzenden einer Haltestelle) beantworten. Noch vor den wirtschaftlichen Kosten ist für die Beurteilung der Verhältnismässigkeit die Abwägung zwischen den Interessen des BehiG und denjenigen des Natur- und Heimatschutzes zentral. Zudem müssen Einschränkungen aufgrund von Privatbesitz und zur Wahrung der Verkehrssicherheit berücksichtigt werden. Bei jeder Haltestelle wird im Einzelnen geprüft, durch welche Umbauoption (autonomer, teilautonomer oder hindernisfreier Zugang) sich die unterschiedlichen Interessen am besten vereinen lassen. Dabei gibt es Haltestellen, bei welchen der Hindernisfreiheit – aufgrund der geografischen Lage, der Umsteigebeziehungen und der Anzahl Nutzenden – ein höherer Stellenwert beigemessen wird als bei anderen Haltestellen.
Sind bauliche Anpassungen an den ÖV-Haltestellen zwingend, wenn die Vorgaben des BehiG umgesetzt werden sollen? Könnten nicht auch die Fahrzeuge angepasst werden?
Abklärungen mit anderen Schweizer Städten und mit etablierten Fahrzeugherstellern haben ergeben, dass es aktuell keine BehiG-tauglichen Fahrzeuge auf dem Markt gibt. Für Fahrzeughersteller besteht wenig Anreiz zur Erstellung von Spezialfahrzeugen: Der Schweizer Markt ist zu klein, es bestehen technische Abhängigkeiten von Fahrzeugkomponenten, die nicht durch die Fahrzeughersteller gefertigt werden, und die Perronhöhen der Haltestellen unterscheiden sich von Stadt zu Stadt. Ihren Beitrag zur Hindernisfreiheit leisten die Fahrzeughersteller dadurch, dass sich die Karosserie der heutigen Busse um einige Zentimeter absenken lässt (sog. «Kneeling»). Dies alleine reicht jedoch für einen niveaugleichen Zugang zum Fahrzeug nicht aus. Daher sind bauliche Anpassungen an der Haltestelle unumgänglich.
Wieso ist eine flächendeckende hindernisfreie Ausgestaltung der ÖV-Haltestellen innerhalb der gesetzlich geforderten Frist nicht möglich?
Aufgrund der Komplexität des Themas hat die Erarbeitung der notwendigen gesetzlichen Grundlagen, Richtlinien und Normen viel Zeit in Anspruch genommen. Erst als diese Grundlagen zur Verfügung standen, konnte die Stadt Bern mit der Ausarbeitung eines detaillierten Umsetzungskonzepts starten. Der in diesem Rahmen erarbeitete Lösungsvorschlag wird aktuell anhand von ausgewählten Pilothaltestellen getestet. Danach folgt der flächendeckende Rollout. Um die Transportsicherheit jederzeit gewährleisten zu können, kann nur eine begrenzte Anzahl von Haltestellen gleichzeitig umgebaut werden. Zudem sind in den Wintermonaten keine effizienten Tiefbauarbeiten möglich. Daher ist der Abschluss der Arbeiten bis 2023 nicht realistisch. Die Vorgaben der Hindernisfreiheit werden jedoch seit dem Inkrafttreten des BehiG im Jahr 2004 standardmässig in sämtlichen Neu- und Umbauprojekten im öffentlichen Raum berücksichtigt.
Wie werden die BehiG-Vorgaben an die ÖV-Haltestellen in den übrigen Schweizer Städten umgesetzt?
Die Erhöhung der Haltekanten wird schweizweit als Standardlösung für die Anpassung bestehender Haltestellen umgesetzt. Der Grossteil der Schweizer Städte wählt daher ein ähnliches Vorgehen wie die Stadt Bern: Wenn immer möglich wird die Erhöhung der Haltekanten im Rahmen ordentlicher Sanierungs- und Umbauprojekte durchgeführt, und es werden Synergien zu weiteren städtischen Bauvorhaben genutzt. Allerdings präsentiert sich die Situation in den Schweizer Städten unterschiedlich: So beeinflussen etwa die Anzahl der Haltestellen, die Lebens- und Sanierungszyklen der Haltestellen sowie ortsspezifische Vorgaben des Natur-, Heimat- und Denkmalschutzes den Umsetzungshorizont und die Kosten für die hindernisfreie Ausgestaltung der Haltestellen erheblich.
Was macht den Umbau der Haltestellen so teuer?
Die Erhöhung der Haltekanten zieht weitere spezifische Anpassungen an den bestehenden Haltestellen nach sich. Grosse Kostentreiber sind dabei die Verschiebung von Wartehallen, die durch den Umbau notwendigen Anpassungen an den Werkleitungen und die teilweise grossflächige Veränderung des Strassenraums. Auch die Berücksichtigung weiterer Interessen – beispielsweise die Realisation von Veloumfahrungen – verursacht zusätzliche Kosten. Die Kosten für die Umbauarbeiten sollten immer in Relation zum Mehrwert für die Bevölkerung gestellt werden. So sind die hindernisfreien Haltestellen nicht nur für Menschen mit Behinderung nutzstiftend, sondern für die gesamte Gesellschaft. Im wachsenden Alterssegment 65+ gibt es einen relativ hohen Anteil an Menschen mit Gehbeeinträchtigung. Zudem profitieren auch Menschen mit Kinderwagen oder schwerem Gepäck von ebenerdigen ÖV-Zugängen.