Nachruf auf Alexander Tschäppät
Bern war seine Leidenschaft. Zum Hinschied von Alt-Stadtpräsident Alexander Tschäppät.
Bern war am Anfang, und Bern war am Ende. Alexander Tschäppät, geboren 1952 als «ä Gieu vom Wyssebüehl», gestorben am letzten Freitag in der hinteren Schosshalde. Und dazwischen 66 Jahre Bern, viel Bern. Bern war Alex Tschäppäts Leidenschaft. Er liebte Bern, und er lebte Bern.
Mit 27 Jahren trat Alex Tschäppät in die Stadtberner Politik ein – zunächst als Stadtrat, dem er während zwölf Jahren bis zu seinem Wechsel in den Nationalrat angehörte. Im Jahr 2000 wählten ihn die Bernerinnen und Berner erstmals in den Berner Gemeinderat, in dem er die ersten vier Jahre als Bau- und Planungsdirektor wirkte. Tschäppät bewegte sich auf jedem politischen Parkett mit der ihm eigenen Gewandtheit. Als er aber im Jahr 2005 schliesslich Stadtpräsident wurde, war er dort angekommen, wo sein politisches Herz am heftigsten schlug. Stadtpräsident zu sein war für ihn nicht irgendein politisches Amt: Stadtpräsident zu sein war seine Berufung. Bern war ihm eine Herzensangelegenheit.
Schwerpunkte wirken über seine Amtszeit hinaus
Während zwölf Jahren war Alex Tschäppät Stadtpräsident. Er hatte Ideen, Konzepte, Visionen für Bern. Und er inspirierte, motivierte, trieb jene an, die diese Ideen umsetzten. Er setzte Schwerpunkte, die weit über seine Amtszeit hinaus wirken und Bern auf Dauer prägen. Eines der ersten Themen seiner Präsidialzeit war die Stadtentwicklung. Alex Tschäppät wusste um den enormen Schatz, den die Stadt Bern mit seinem UNESCO-Welterbe besitzt und als dessen beherzter Sachwalter er sich verstand. Leichtfertige Bespassungs-Aktionen vor der Kulisse der Altstadt waren ihm ein Gräuel, hässliche Leuchtreklamen passten für ihn so wenig ins Stadtbild wie schlecht gestaltete Laubenständer. Insofern war Alex Tschäppät durchaus konservativ: Er erkannte und respektierte echte Werte.
Gleichzeitig wusste er, dass die Zeit auch in Bern nicht stehenblieb. Er übernahm das Stadtpräsidium in einer Phase, in der die Städte zu boomen begannen. Diesen Boom wollte er mitgestalten, und er tat dies nach Kräften: Mit Planungen und Infrastrukturen – der autofreie Bundesplatz mit den 26 Springbrunnen ist zu einem Symbol für die Stadt geworden. Oder mit Events wie der Eishockey-WM oder der Tour de France, mit denen er Bern zum Hotspot weit über die Landesgrenzen hinaus werden liess. Dass Bern nach jahrzehntelangem Bevölkerungsschwund wieder wuchs, freute ihn ungemein, und er konnte nicht genug auf die hohe Lebensqualität und Attraktivität der Schweizer Hauptstadt hinweisen.
Er setzte Bern auf die politische Landkarte der Schweiz
Hauptstadt, nicht Bundesstadt. Dass die Schweiz heute eine (Bundes-)Hauptstadt hat, ist im Wesentlichen Alex Tschäppäts Verdienst. Als Bern drohte, hinter den Metropolitanräumen Zürich, Genf und Basel in die zweite Reihe verbannt zu werden, war er der eigentliche Treiber hinter der «Hauptstadtregion», mit der er der Schweiz in Erinnerung rief, dass das politische Zentrum des Landes in Bern liegt. Politisch war der Aufbau der «Hauptstadtregion» ein Meisterstück. Alex Tschäppät setzte Bern auf die politische Landkarte der Schweiz, und von Genf bis St. Gallen wusste man, wer in Bern Stadtpräsident war.
Charmant und warmherzig
Auch wenn Alex Tschäppäts Herz in erster Linie für Bern schlug: Sein Horizont hörte keineswegs an der Stadtgrenze auf. Er hatte manchen Winkel dieser Erde bereist, in jungen Jahren zunächst als Reiseleiter, später als Politiker. Und wo er auch hinkam, ob in Europa, Asien, im Nahen Osten oder anderswo: Er kam an. Alex Tschäppät hatte diese einzigartige Gabe, sich mit Menschen unterschiedlichster Herkunft auf Anhieb zu verstehen, ihnen vom ersten Moment einer Begegnung an das Gefühl zu geben, dass er sie ernst nahm und sich für sie interessierte. Er erhielt Einladungen von Staats- und Regierungschefs aus der halben Welt. Und wenn diese in Bern zu Besuch waren, wollten sie regelmässig auch den Stadtpräsidenten sehen. Vielleicht deshalb, weil Alex Tschäppät auf seine so charmant-warmherzige Art unglaublich undiplomatisch war, weil er in der Welt der angeblich Wichtigen nicht anders war als unter Berns Lauben, wo er mit jedem ein Wort wechselte und für jedes Anliegen ein offenes Ohr hatte.
Von Protokollen und Konventionen hielt er wenig, wenn er der Ansicht war, dass diese der Gastlichkeit abträglich waren. Als ihm die russische Präsidentengattin am Bärengraben als Staatsgeschenk zwei kleine Bären überreichte, strapazierte er das Nervenkostüm des Sicherheitsdienstes aufs Äusserste, als er kurzerhand die Absperrungen wegräumen liess, um den Pressefotografen ein besseres Sichtfeld zu schaffen. Oder als der japanische Kronprinz in Bern weilte und Alex Tschäppät für ein protokollarisches Chaos sorgte, weil er den Kronprinzen die steilen Stufen des Zytglogge-Turms hinaufführte, obwohl dies im Ablaufplan überhaupt nicht vorgesehen war. Tschäppät traf den Papst und den UNO-Generalsekretär, der ihm nach seinem Besuch in Bern einen persönlichen Dankesbrief schrieb – und dabei betonte, wie besonders-anders er den Stadtpräsidenten Berns erlebt hatte.
Er verstand sich immer als Stadtvater
Bei seiner ganzen Weltläufigkeit verstand sich Alex Tschäppät aber immer und in erster Linie als Stadtvater. Rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche. Während seiner Zeit als Stadtpräsident war er kaum je länger am Stück weg aus Bern – allenfalls noch ein paar Tage in seinem kleinen Häuschen am Murtensee. Von dort aus konnte er in zwanzig Minuten in seiner Stadt sein, wenn es sein musste. Die Nähe zu Bern und den Menschen, die dort lebten, war ihm wichtig. Eine VIP-Einladung an ein Joe-Cocker-Konzert – dessen Musik er liebte – schlug er aus, weil er versprochen hatte, an einer lokalen Lehrabschlussfeier zu sprechen. Alex
Tschäppät war im Element, als an der Euro 08 100’000 Oranje Fussballfans die Stadt in ein Tollhaus verwandelten. Aber er vergass nicht, die Hornusser von Bern-Beundenfeld nach dem Gewinn des Meistertitels in den Erlacherhof einzuladen.
Das war es, was die Bernerinnen und Berner spürten und was sie berührte: Das Echte, das Verbindliche. Alex blieb immer sich selber, authentisch, ein Unikat. Er war absolut loyal, sein Wort galt. Sein statt Schein, und zum Sein gehörten auch seine Schwächen. Dies machte ihn populär, und er liebte es, populär zu sein. Popularität war ihm Anerkennung für seine Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit, nicht Mittel zum Zweck. Populismus, wie er in der heutigen Politik die Menschen auseinanderdividiert, verabscheute er. Alex war ein verlässlicher Sozialdemokrat. Linke Positionen vertrat er pragmatisch, mit Verständnis auch für andere Positionen und mit Gespür für das Machbare. Ideologie war ihm zuwider, woher auch immer sie kam. Denn er hatte einen Kompass. Er hatte seinen Plan für Bern und für die Menschen in dieser Stadt. Wenn ihm eine Idee gefiel, fragte er nicht nach der Parteicouleur des Absenders, sondern danach, ob es Bern und der Berner Bevölkerung etwas bringe. Und die Bernerinnen und Berner dankten es ihm: Drei Mal wählten sie ihn ins Stadtpräsidium. Mehr war schon reglementarisch nicht möglich. Das mit Abstand beste Wahlergebnis erzielte er beim dritten Mal – was bei langen Politikerkarrieren aussergewöhnlich ist.
«Nimm dich selbst nicht zu ernst»
Alex konnte reden. Er war ein Meister der Kommunikation. Wenn er sprach, nahm er kein Blatt vor den Mund, machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. Aus dem Stegreif konnte er einteilen und austeilen, mit Humor, hemdsärmelig meist, aber nie dumpf, sondern einfach so, dass ihn jeder und jede verstand. Manchmal auch ironisch und selbstironisch. Seine Voten in Stadtratsdebatten oder Streitgesprächen waren gefürchtet, denn rhetorisch gewann er fast immer. Wer an Veranstaltungen nach ihm als Redner auftreten musste, hatte einen schweren Stand. Am besten war er oft, wenn er ohne Manuskript sprach. Dann kamen seine Worte direkt aus seinem Herzen. Und wenn ihn die rhetorische Unbekümmertheit gelegentlich ins Fettnäpfchen treten liess, nahm er den Spott gelassen hin. Er wollte ja kein Alexander der Grosse sein. Präsidiales Gehabe war ihm fremd. Er war nahbar, red- und leutselig, ein Mensch-wie-du-und-ich. Seinen 60. Geburtstag feierte er bei Suurem Mocke und Härdöpfustock, er mochte das Bodenständige und blieb dabei selbst auf dem Boden. «Nimm dich selbst nicht zu ernst», war sein elftes Gebot.
Alex Tschäppät kannte seine Stadt und die Menschen, die in ihr wohnten, wie kaum ein zweiter. Das lag nicht zuletzt daran, dass er nicht nur reden konnte, sondern auch ein ausserordentlich guter Zuhörer war und ein enormes Gedächtnis besass. Dass er zuhörte, sah man ihm nicht immer an – Alex konnte abwesend wirken. Dass er aber hellwach und präsent war, merkte sein Gegenüber spätestens dann, wenn er – manchmal aus dem scheinbaren Nichts – mit wenigen präzisen Worten auf die heiklen Punkte des Themas hinwies oder mit einer stupenden Frage völlig neue Perspektiven öffnete. Dabei kam ihm seine Intuition, sein manchmal schon fast verwirrendes Gespür für das Wesentliche zugute. Zusammenhänge intellektuell zu erfassen gelang ihm völlig unbernisch schnell; seine intuitive Intelligenz hingegen war geradezu verblüffend, und sie leitete ihn kaum je fehl.
Der Menschenfreund
Bei aller persönlichen Autorität, die er ausstrahlte und die ihm auch im Gemeinderat – den er ausgesprochen kollegial leitete – eine natürliche Vorrangstellung einräumte, war Alex kein Dickhäuter. Mediale Tiefschläge aus Zürich, bei denen auch noch sein längst verstorbener Vater herhalten musste, gingen ihm unter die Haut. Kritik prallte an ihm nicht einfach ab, vielmehr liess sie ihn oft zweifeln und bereitete ihm manch schlaflose Nacht. Persönliche Schicksale anderer beschäftigten ihn – vor allem Schicksale jener, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen, die Pech gehabt hatten. Schon als junger Stadtparlamentarier – er arbeitete damals noch als Strafrichter und kannte schwierige menschliche Schicksale aus nächster Nähe – hatte er in der damals aktuellen Drogendebatte nicht vergessen, dass oft ein nur Quäntchen Glück darüber entschied, wie sich ein Leben entwickelte. Noch mehr als Bern liebte Alex Tschäppät die Bernerinnen und Berner. Er fühlte sich verantwortlich, er kümmerte sich – oft auch dann, wenn es eigentlich die Aufgabe anderer gewesen wäre. Er liebte es, Stadtpräsident zu sein; aber die Verpflichtung, die für ihn damit als Stadtvater verbunden war, machte ihn bisweilen auch müde.
Nach seinem Rücktritt als Stadtpräsident eröffnete Alex Tschäppät eine kleine Firma, sein «Büro für Angelegenheiten». Von dort aus hätte er seine Erfahrung und sein Netzwerk weiterhin hier und dort für Bern einbringen wollen. Von dort aus hätte er auch das tun können, was wir Bernerinnen und Berner ihm so gerne gegönnt hätten: Die Lorbeeren zu geniessen, immer noch dabei zu sein in seiner Stadt, jetzt nicht mehr zu müssen, nur noch zu dürfen. Man will es nicht glauben, dass ihm dieses Glück nur noch für ein paar wenige Monate vergönnt gewesen ist. Bern war ihm eine Herzensangelegenheit, bis zum letzten Herzschlag.
«Merci, äs het gfägt mit öich»: So pflegte Alex in seiner bodenständigen Herzlichkeit jeweils Ende Jahr am Personalanlass seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für das gemeinsam Erlebte und Geschaffene zu danken. Heute sagt Bern: «Merci Alex, es het gfägt mit dir!» Bern wird dich nicht vergessen.
Der Gemeinderat der Stadt Bern
Verfasst von Jürg Wichtermann, Stadtschreiber
Bern, 6. Mai 2018