Referat von Franziska Teuscher anlässlich der Tagung «Gutes Alter»
Referat von Gemeinderätin Franziska Teuscher, Direktorin für Bildung, Soziales und Sport, anlässlich der Tagung «Gutes Alter», 29. Oktober 2021
Es gilt das gesprochene Wort.
«620'000 ältere Menschen erhalten keine oder zu wenig Betreuung»
Sehr verehrte Damen und Herren
Willkommen und vielen Dank für die Einladung zur Tagung.
«620'000 personnes âgées ne reçoivent pas ou trop peu de soins» Mesdames et Messieurs Bienvenue et merci pour l'invitation à la conférence. |
Gemäss der neusten Publikation der Paul-Schiller-Stiftung erhalten in der Schweiz 620'000 ältere Menschen keine oder zu wenig Betreuung, sei dies Zuhause oder im Heim. Einer der Mitautoren der Untersuchung, Prof. Dr. Carlo Knöpfel, wird gleich im Anschluss sprechen und eventuell noch vertieft auf die Studie eingehen. Dieses Minus an Betreuungsleistung entspricht rund 20 Millionen Stunden. Das ist eine erschreckende Zahl.
Im Vergleich zum Ausland ist das System der sozialen Sicherheit für ältere Menschen bei uns gut ausgebaut. So haben wir mit der ersten und zweiten Säule eine gute finanzielle Basis. Gleichwohl sind die finanziellen Mittel für viele ältere Menschen knapp. Gründe sind die Berufliche Vorsorge BVG, die erst seit 1985 obligatorisch ist, und dass viele Frauen durch Erwerbsunterbrüche und die mangelnde Anerkennung der Care-Arbeit Lücken in ihrer Altersvorsorge habe. In der Schweiz und vor allem in den Städten und den Agglomerationsgemeinden sind auch genügend ambulante und stationäre Versorgungsnetze vorhanden. Allerdings mit der Einschränkung, dass die Betreuung im Gegensatz zur Pflege zu einem grossen Anteil selbst finanziert werden muss. Dies führt dazu, dass diese zu einem Privileg der wohlhabenderen Bevölkerung wird.
In der Stadt Bern setzen wir beim Thema Betreuung seit rund sieben Jahren auf zwei Angebote: «Nachbarschaft Bern» und die Betreuungsgutsprachen. Es geht einerseits darum, den Druck auf die Angehörigen als alleinige Erbringer der notwendigen Betreuung zu verringern. Andererseits wollen wir älteren Menschen mit beschränkten Geldmitteln eine adäquate Betreuung ermöglicht.
Die Stadt Bern hat deshalb 2015 das Pilotprojekt «Nachbarschaft Bern» lanciert und dieses per 2019 als Regelangebot etabliert. Wir haben zwei wichtige Ziele: die Förderung und Stärkung von Nachbarschaftshilfe sowie die bessere Vernetzung der professionellen und nicht professionellen Hilfssysteme. Wie die Jugendarbeit muss auch die Altersarbeit im Quartier stattfinden, denn im gewohnten Umfeld alt zu werden, ist eines der wichtigsten Anliegen älterer Menschen. Die Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit VBG bzw. das Team «Nachbarschaft Bern» vermittelt Unterstützungsleistungen zwischen Nachbarinnen und Nachbarn. Menschen, die Unterstützung wie beispielsweise Einkaufshilfen, Begleitung zum Arzt etc. brauchen und Personen, die sich freiwillig engagieren wollen, werden zusammengebracht.
Der Einbezug von semi-professionellen und professionellen Strukturen wird mit zunehmendem Alter meist unumgänglich. Diese werden in der Schweiz wie bereits erwähnt nicht von den Krankenkassen bezahlt, ausser wenn gleichzeitig Pflege nötig ist. Da es nicht sein darf, dass sich nur finanziell besser gestellte ältere Menschen Betreuung ausserhalb des persönlichen Netzwerkes leisten können, hat die Stadt Bern per Mai 2019 das Pilotprojekt «Betreuungsgutsprachen» gestartet.
Während der 3-jährigen Projektphase möchten wir erfahren, ob es mit der Mitfinanzierung von Betreuung möglich ist, länger selbständig wohnen zu können und somit einen Heimeintritt hinauszuzögern oder gar zu vermeiden. Weiter interessiert uns, ob die Lebensqualität trotz steigendem Alter und abnehmender Vitalität verbessert oder zumindest erhalten werden kann. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit Pro Senectute Region Bern durchgeführt und von der Berner Fachhochschule wissenschaftlich begleitet.
Bei den Betreuungsgutsprachen kommen nicht nur Menschen, die Ergänzungsleistungen beziehen, in den Genuss der finanziellen Unterstützung, sondern auch Personen im AHV-Alter, die ein Einkommen oder ein Vermögen leicht über den EL-Grenzen haben. Personen der sogenannten unteren Mittelschicht sind häufig finanziell schlechter gestellt als Personen, die Ergänzungsleistungen erhalten. Nach der Bedarfs-Abklärung durch die Fachpersonen der Pro Senectute spricht die Stadt Bern maximal 500 Franken pro Monat für Unterstützungsleistungen im Bereich Sicherheit, Haushaltsführung, Hilfsmittel, soziale Integration, Ernährung und betreutes Wohnen. Jährlich werden die Leistungsbezüger*innen durch die gleichen Pro Senectute-Mitarbeiter*innen zuhause besucht, die ihren physischen wie auch psychischen Gesundheitszustand überprüfen. Diese Kontakte sind nicht nur für die Evaluation des Projektes wichtig, sondern sie helfen auch, eine Vertrauensbasis aufzubauen.
In den vergangenen zweieinhalb Jahre erhielten bis heute knapp 100 Personen Kostengutsprachen. Da das Alter weiblich ist, erstaunt es nicht, dass davon rund dreiviertel Frauen sind. Die jüngste Person hat knapp das AHV-Alter reicht, die älteste Bezügerin ist 95 Jahre alt. Die grosse Mehrheit der älteren Personen bezieht gleichzeitig Ergänzungsleistungen und rund ein Drittel ist verbeiständet.
Die Bedarfsabklärungen ergeben, dass rund 90 Prozent der älteren Personen aus drei oder mehr Bereichen Unterstützung benötigen. Sicherheit, soziale Integration und Ernährung sind dabei die wichtigsten. Als konkrete Beispiele sind etwa Mahlzeitendienste, die Finanzierung eine Notfallknopfes (Armband) oder Besuchsdienste zu nennen. Die meisten älteren Personen schöpfen die gesprochenen Leistungen nicht aus. So werden etwa empfohlene Besuchsdienste wenig nachgefragt, da viele ältere Menschen nur ungern fremde Personen in ihre Wohnung lassen. Auch weniger als vorgeschlagen wird die Unterstützung beim Umzug in eine betreute Wohnform genutzt. Da durch die Betreuungsgutspache nur ein Teil der höheren Miete ausgeglichen werden kann. Zudem sind der Aufwand eines Umzugs und der Wechsel aus dem angestammten Quartier für ältere Menschen sehr schwierig.
Das Pilotprojekt Betreuungsgutsprachen wird im Frühling 2022 evaluiert. Heute liegt ein interner Zwischenbericht vor, der folgende Tendenzen aufzeigt:
- Bei den meisten älteren Personen zeigte sich eine Stabilisierung oder eine Verbesserung der psychischen und physischen Befindlichkeit während der Projektdauer. Diese Personen stufen ihren körperlich wie psychischen gesundheitlichen Allgemeinzustand mehrheitlich besser ein als zu Beginn des Projektes.
- Die älteren Personen berichten von weniger Stürzen. Dies ist sehr erfreulich, da Stürze häufig der Grund für den Eintritt in ein Pflegeheim sind.
- Den meisten älteren Personen wird bei der Erstabklärung Unterstützung aus drei oder mehr Bereichen empfohlen. Das zeigt, dass diese Personen aktuell relativ spät in den Genuss der Betreuungsgutsprachen kommen.
Ohne dem Schlussbericht vorgreifen zu wollen, hat das Pilotprojekt gezeigt, wie wichtig es ist, frühzeitig mit der Betreuungsunterstützung anzusetzen. Der Prozess der Fragilisierung beginnt schleichend und es stellt sich die Frage, wann der Moment ist, um ausserhalb des privaten Umfeldes nach zusätzlicher Hilfe zu fragen. Nur wenn hier früh angesetzt wird, kann die Betreuung auch präventiv eine Wirkung entfalten. Diese Erkenntnis ist nicht neu, eine Patentlösung dafür gibt es jedoch nicht.
Das vierte Lebensalter führt bei vielen älteren Menschen zur Angst vor Abhängigkeit. Der Zürcher Ethiker und Gerontologe Heinz Rüegger umschreibt diese Abhängigkeit als ein vermeintliches Zeichen von Schwäche, Inkompetenz und Entwürdigung. Ich bin überzeugt, dass wir als Gesellschaft hier eine aktive Rolle übernehmen und auch diesen stereotypen Bildern etwas entgegensetzen müssen. Dass wir alle uns bereits in früheren Lebensphasen darin üben, nach Hilfe zu fragen und dies nicht als Schwäche ansehen. Dass wir unser Streben nach Individualismus nicht zu weit treiben und unseren Selbstwert nicht zu stark davon abhängig machen.
Wir sind zuversichtlich, in der Stadt Bern mit den Betreuungsgutsprachen einen positiven Beitrag zur Lebensqualität und zur physischen und psychischen Gesundheit der älteren Menschen zu leisten. Ebenso können so betreuende Angehörige entlastet sowie längerfristig staatliche Gesundheits- und Sozialkosten reduziert werden.
Für den weiteren Verlauf der Tagung wünsche ich Ihnen viele wertvolle Impulse. Und falls wir uns in fünf Jahren wieder treffen, hoffe ich, dass wir nicht mehr von 620'000 älteren Menschen ohne adäquate Betreuung sprechen müssen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.