Referat anlässlich der Medienkonferenz zum Pilotprojekt Überbrückungshilfe
Referat von Gemeinderätin Franziska Teuscher, Direktorin für Bildung, Soziales und Sport, anlässlich der Medienkonferenz zum Pilotprojekt Überbrückungshilfe.
(Es gilt das gesprochene Wort)
Werte Medienschaffende, liebe Anwesende
«Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.»
Zu diesem Schluss kommt schon unsere Bundesverfassung in ihrer Präambel.
Für mich sind das keine leeren Worte. Allerdings frage ich mich zunehmend, ob wir dieser Prämisse gerecht werden. Die Schweiz hat ein sehr gut ausgebautes Sozialsystem, das ist unbestritten. Doch es ist ebenso unbestritten, dass es Lücken hat. Corona hat uns drastisch vor Augen geführt, dass wir ein bedeutendes Problem mit versteckter Armut haben. Unerwartet viele Menschen nehmen trotz Notlage keine Sozialhilfe in Anspruch.
Wir können nicht genau feststellen, wie viele Personen keine Sozialhilfe beantragen. Es gibt aber wissenschaftliche Modelle, die Schätzungen ermöglichen. Demnach dürfte die Nichtbezugsquote in der Schweiz und in Bern bei 20 bis 25 Prozent der Sozialhilfebeziehenden liegen. Das würde bedeuten, dass in Bern nicht nur 7000, sondern 8400 bis 8750 Personen einen Anspruch auf Sozialhilfe hätten.
Die Gründe für den Nichtbezug sind vielfältig: Gesellschaftliche Blossstellung, Schamgefühle, fehlendes Wissen oder falsche Informationen, Angst vor einer Rückerstattungs- oder Verwandtenunterstützungspflicht, die vielen Auflagen und die dichten Kontrollen bringen Menschen in Not dazu, auf Sozialhilfe zu verzichten oder verzichten zu müssen. Diese Zugangshürden zur Sozialhilfe haben sich in den vergangenen Jahren erhöht, was die versteckte Armut in der gesamten Schweizer Bevölkerung hat anwachsen lassen. Die vor wenigen Jahren eingeführten Verschärfungen im Ausländerrecht fallen aber besonders ins Gewicht: Wenn eine Person Sozialhilfe bezieht, droht ihr heute der Entzug der Aufenthaltsbewilligung. Migrant*innen, Sexarbeiter*innen und Personen ohne festen Wohnsitz werden damit faktisch aus dem Hilfssystem ausgeschlossen. Noch weniger Spielraum haben Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung. Sans-Papiers sind aber realer Teil unserer Gesellschaft, und viele profitieren von ihnen und ihrer Arbeitskraft.
Das Ausmass versteckter Armut macht es nötig, die Sozialhilfe wieder zu öffnen und ihr wieder die Funktion eines echten Auffangnetzes ohne Löcher zu geben. Gemeinsam mit dem Gemeinderat setze ich mich beim Kanton und beim Bund dafür ein, dass die gesetzlichen Bestimmungen angepasst werden. Erfolge werden aber auf sich warten lassen. In der Zwischenzeit müssen wir als Gemeinwesen dafür sorgen, dass unmittelbare Not behoben wird. Als Stadt Bern, die stolz ist auf ihre Offenheit, auf ihre Lebensqualität, auf ihre Integrationsfähigkeit, können wir existenzielle Bedrohungen in unserer Bevölkerung nicht dulden. Die Hilfe in Notlagen und der Erhalt eines menschenwürdigen Daseins sind immerhin Menschenrechte. Darum müssen wir als Gemeinwesen aktiv, niederschwellig, unbürokratisch und rasch helfen.
Die Überbrückungshilfe ist die vorläufige Antwort der Stadt Bern auf versteckte Armut und Ausschluss vom Sozialhilfesystem. Im Rahmen eines Pilotprojektes wollen wir sie erproben und ihre Wirkung auswerten. Der Gemeinderat hat sich im Rahmen der aktuellen Legislaturplanung das Ziel gesetzt, «die sozialen Folgen der Corona-Pandemie mit höchster Priorität» zu bekämpfen. Unter anderem gestützt darauf hat er im März 2022 die Strategie zur Förderung der beruflichen und sozialen Integration in der Stadt Bern für die Jahre 2022 bis 2025 verabschiedet. Die darin enthaltene Massnahme 6 sieht den Aufbau von «Niederschwelligen Hilfen» vor. Mit dem Pilotprojekt zur Überbrückungshilfe kommt diese Massnahme nun zur Umsetzung.
Als Stadt Bern müssen wir in der Lage sein, uns die Existenzsicherung von Armutsbetroffenen zu leisten, und können das auch. In Bern haben 2020 rund 14'000 Personen Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen bezogen. Das sind 10,5 Prozent der Bevölkerung, die armutsgefährdet sind. Dazu kommt ein unbekannter Anteil von Armutsbetroffenen, die aus den erwähnten Gründen keine Sozialhilfe beziehen können oder wollen.
Kurz und gut: Wir können und müssen uns die Überbrückungshilfe leisten, und ich bin sehr froh, dass wir nun das Pilotprojekt starten können. Ich danke den Mitarbeitenden im Sozialamt und der Fachstelle Sozialarbeit der römisch-katholischen Gesamtkirchgemeinde Bern und Umgebung für die Vorarbeiten und die Durchführung des Pilotprojekts. Ich bin überzeugt, dass wir damit einen wichtigen Beitrag zur Linderung der Not leisten – solange die Lücken in unserem sozialen Netz bestehen.