Stadtfest-Gottesdienst: Vielfalt leben – in Kirche und Gesellschaft
Rede von Stadtpräsident Alec von Graffenried anlässlich des Kirchensonntags im Berner Münster, 10. Februar2019
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste
Ich wurde eingeladen, am heutigen Gottesdienst zum Stadtfest einige Worte zu sagen zum Thema «Vielfalt leben, in Kirche und Gesellschaft.» Herzlichen Dank für diese Einladung.
Die Stadt Bern will ja bekanntlich eine Stadt der Vielfalt sein. Das predigen wir nicht nur am Sonntag, das predigen wir täglich. Wir wollen offen sein für alle und dadurch vielfältig sein.
Stadtfest der Vielfalt
Heute ist ja der dritte und letzte Tag des Stadtfests. Es war bisher ein gelungenes Fest. Viel davon war sehr regional, und trotzdem vielfältig. Die Verantwortung für die Vielfalt der Inhalte lag ganz in den Händen des privaten OKs.
Und doch hat die Stadt der Vielfalt dem Fest etwas einen Stempel aufgedrückt. In seinen Bedingungen für das Fest hat der Stadtrat nämlich sehr genaue Vorgaben geliefert. Auch im Sinne der Vielfalt. Damit zum Beispiel niemand vom Fest ausgeschlossen wird, gab es weder Eintrittskarten noch einen Konsumationszwang. Alle Gastronomiestände wurden aufgefordert, mindestens ein preisgünstiges Menü anzubieten. Und eine Bühne wurde für junge, lokale Kunst- und Kulturschaffende reserviert. Das gesamte Angebot sollte die Stadt der Vielfalt widerspiegeln.
Aus meiner Sicht haben die Veranstalter diese Vorgaben nach bestem Wissen und Gewissen in guter Weise umgesetzt. Das Stadtfest soll auch ein Stadtfest der Vielfalt sein, und damit der Stadt der Vielfalt gerecht werden.
Stadt der Vielfalt statt der Einfalt
Wir wollen eine Stadt der Vielfalt sein. Wir haben auch gar keine Alternative dazu. Das Gegenteil der Vielfalt wäre nämlich die Einfalt, und wer will schon einfältig werden oder würde sich sogar selber als einfältig bezeichnen? Ich nicht. Sie vermutlich auch nicht. Ich will kein Einfaltspinsel sein, dann muss ich also die Vielfalt wollen.
Vielfalt leben
Wer aber eine Stadt der Vielfalt sein will, muss diese Vielfalt auch leben. Der muss auch mit der Vielfalt leben wollen. Vielfalt leben, das betrifft alle Lebensbereiche. Betrachten wir uns und unser Leben in Ruhe, dann erkennen wir leicht, ob es uns ernst ist mit dem Leben in der Vielfalt. Leben in der Vielfalt, das heisst auch Leben mit dem anderen, mit der Andersartigkeit. Vielfalt leben bedeutet auch, mit Menschen zusammenzuleben, die nicht so sind, wie ich selbst bin. In meinem Fall sind dies Menschen,
- die zum Beispiel nicht Schweizer*innen sind.
- Oder die nicht weiss sind.
- Die keine Cis-Männer sind, also weder männlich noch heterosexuell sind.
- Deren Muttersprache nicht Deutsch ist.
- Die nicht in einer klassischen Familiensituation leben.
- Die nicht dem Bildungsbürgertum angehören.
- Die nicht in der Stadt leben.
- Die politisch anders gewickelt sind als ich selbst.
- Die einfach anders sind.
Natürlich, das sagt sich leicht. Ich habe auch Glück! Das Zusammenleben mit solchen Menschen fällt mir persönlich auch leicht. Jedenfalls meistens. Spannend wird es erst, wenn mir das nicht mehr so leichtfällt. Wenn die Andersartigkeit mir etwas abverlangt. Wie habe ich es mit der Vielfalt, wenn mir zwei Frauen mit einer Burka begegnen? Oder gerade letzthin: Wie begegne ich Rockern von den Hells Angels? Burka und Hells Angels tragen fraglos auch zur Vielfalt bei, aber hier ist meine Toleranz gefragt. Toleranz ist das Schlüsselwort, eingefordert wird die Toleranz der Gesellschaft.
Toleranz in der Gesellschaft
Toleranz in unserer Gesellschaft ein positiv besetzter Wert. Kaum jemand sagt von sich, er sei intolerant. Toleranz ist nichts weniger als die Grundlage des Zusammenlebens in einer Stadt. Auch wenn Menschen in manchen Punkten vollkommen unterschiedliche und sogar sehr gegensätzliche Auffassungen vertreten, haben wir uns auf eine Formel von «Leben und leben lassen» geeinigt. Andernfalls würden wir uns gegenseitig in destruktiven Konflikten aufreiben. Wir mögen zwar mit vielem nicht einverstanden sein, fügen uns aber und ertragen den Zustand, ohne dagegen anzukämpfen.
Heisst tolerieren nur dulden?
Toleriert werden heisst wörtlich, geduldet zu werden. Bei der Toleranz schwingt mit, ich lehne dies oder das ab, aber ich toleriere es trotzdem. So verstanden scheint Toleranz ein zwiespältiges Phänomen zu sein. Sie ist zwar ein zentraler Bestandteil einer vielfältigen Gesellschaft, denn sie ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die Vielfalt auch funktioniert.
«Wir tolerieren das, wogegen wir auch Einwände haben können.» Unsere Toleranz hält uns dann also lediglich davon ab, die gefühlte Ablehnung unreflektiert in Handlungen umzusetzen. Insofern dient Toleranz als Barriere gegen offene Diskriminierung. Doch diese Art von Duldung bedeutet eben noch lange nicht Akzeptanz oder gar Empathie.
Die Toleranz-Definition der UNESCO
Die UNESCO verpflichtet sich in ihrer Erklärung aus dem Jahr 1995 zur Förderung von Toleranz und Gewaltlosigkeit und erläutert dabei sehr genau, was sie darunter versteht. Gemäss Definition der UNESCO bedeutet Toleranz vor allem «Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt (…) Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg. Sie ist nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit. Durch Toleranz werde Frieden erst möglich, denn Toleranz (…) trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden.»
Diese Passage macht klar, dass die UNESCO die Toleranz anders, nämlich weiter als im Wortsinn definiert. Toleranz, so der Wortlaut der Erklärung, sei nämlich vor allem eine «aktive Einstellung». Doch das widerspricht der allgemein gängigen Definition des Begriffes.
Respekt und Toleranz – eine Abgrenzung der Begriffe
Wir verwenden die Begriffe «Toleranz» und «Respekt» häufig gleichbedeutend, wenn es um die Rechte von Minderheiten geht. Doch ist hier der Begriff «Toleranz» wirklich noch angebracht? Wäre es nicht korrekter, von «Respekt» zu sprechen? Ich finde schon, und ich plädiere dafür. Die Bedeutung dessen, was damit inhaltlich ausgedrückt wird, ist nämlich tatsächlich eine ganz andere.
Respekt geht weit über die Toleranz hinaus: Respekt ist eine Form der Wertschätzung. Es ist dabei nicht zwingend, dass man die Einstellung des anderen teilt. Respekt heisst: Wir nehmen den anderen Menschen und seine Eigenheiten hin, heissen sein Verhalten sogar gut. Akzeptanz und Respekt beruhen auf Freiwilligkeit und haben eine aktive Komponente. Im Gegensatz zur Toleranz, denn die reine Duldung ist passiv. Die Haltung dahinter kann auch widerstrebend sein und auf Ablehnung beruhen.
In dem Sinne finde ich es klärend, den wertschätzenden Respekt, statt die passive Toleranz einzufordern, für unser Zusammenleben in der Stadt der Vielfalt. Nur, wenn wir den gegenseitigen Respekt immer wieder einfordern und leben, sind wir in der Lage, in der Vielfalt friedlich zusammenzuleben.
Vielfalt leben in der Kirche?
Jetzt habe ich noch gar nichts dazu gesagt, was der Beitrag der Kirche sein könnte, zum Leben in der Vielfalt. Die Kirche könnte ja als eher geschlossener Kreis einer Religionsgemeinschaft verstanden werden. Glücklicherweise hat sich die Kirche aber geöffnet, sie ist idealerweise mit allen gesellschaftlichen Gruppierungen verbunden und leistet damit einen Beitrag zur Stadt der Vielfalt.
Das Leuchtturmprojekt hier in Bern ist die Offene Kirche Bern in der Heiliggeistkirche. Diese Kirche ist zunächst einfach eine offene Kirche mitten in der Stadt, sie nennt sich City-Kirche. Durch diese Offenheit und das Programm, das diese Öffnung unterstreicht, hat sich in den letzten Jahren in der offenen Kirche aber ein neuer gesellschaftlicher Raum des Austauschs gebildet. Ich finde das grossartig. Die offene Kirche versteht es, wirklich für alle Bevölkerungsgruppen offen zu sein.
Im offenen Raum der offenen Kirche wird die Stadt der Vielfalt so gut thematisiert und gelebt, wie sonst nirgends in der Stadt. Mit dieser Öffnung kann die Kirche einen grossen und wertvollen Beitrag zur Stadt der Vielfalt beitragen.
Die offene Kirche hat sich denn auch am Stadtfest beteiligt. Sie wurde zu einem der Träger des Fests und hat mit der Brücke und der Bühne das Stadtfest auf den Bahnhofplatz getragen.
Falls Sie selbst noch nicht am Stadtfest waren und nun noch einen Blick auf die Vielfalt werfen möchten, dann haben Sie heute dazu noch Gelegenheit.
Ich danke Ihnen für Ihre Zeit und wünsche Ihnen viel Vergnügen!