Autorenbeitrag Alec von Graffenried in der «Weltwoche» zur Reitschule in Bern
Autorenbeitrag von Stadtpräsident Alec von Graffenried in der «Weltwoche» zur Reitschule in Bern, 1. Februar 2017©
Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Weltwoche
Seit sechs Wochen bin ich Stadtpräsident von Bern. Gerne hätte ich mich hier an Ihre Leserschaft gewandt und die Vorzüge Berns – Hauptstadt, Herz und Seele der Schweiz – gepriesen. Aber: «Bern brutal – Krawall total», titelte der Blick. Die Schweiz reibt sich die Augen vor Tränengas und Knallpetarden in Bern. Strassenschlachten zwischen vermummten Chaoten und Polizisten in Kampfmontur prägen die Diskussion um die Reitschule. Sie liefern den Gegnern des Kulturzentrums Argumente für ihre erneute Forderung nach einer Schliessung der «Halle».
Doch damit ist in Bern kein Blumentopf zu gewinnen. Unbesehen aller Krawalle hat die Stadtberner Stimmbevölkerung bisher fünf Mal in stoischer Ruhe Schliessung oder Abbruch der Reitschule abgelehnt. Darum versucht Stadtpolitiker und Jungnationalrat Erich Hess nun mit einer kantonalen Initiative die Stadtbevölkerung auszuhebeln. Kantonale Zahlungen an die Stadt sollen bis zur Schliessung der Reitschule ausgesetzt werden. Was jedem Rechtsstudenten ab dem dritten Semester spanisch vorkommt, hat nun auch ein Rechtsgutachten der Uni Zürich festgestellt: die Hess-Initiative ist verfassungswidrig und ungültig.
Warum checkt Bern nicht, was die ganze Schweiz will: Schliesst dieses Gewaltnest! Schluss mit rechtsfreiem Raum! Bernerinnen und Berner kennen und lieben eben ihre «Halle». Sie gehören zu den tausenden, die in ihrer Jugend für Freiräume gekämpft haben – wie ich. Oder sie wissen, wo die Berner Jugend heute das Wochenende verbringt. Da, wo mein Vater einst als Jugendlicher reiten lernte, pulsiert das Berner Nachtleben. Lehrlinge und Gymeler diskutieren auf dem Vorplatz, sitzen um ein Feuer im Innenhof und trinken Einsiedler-Bier von Nationalrat Aloys Gmür (CVP/SZ); die Reitschule ist mit Abstand dessen grösster Kunde. Es gibt keinen vergleichbaren Freiraum, tolerant, multikulti, schillernd. Nicht für eine Handvoll Partygänger, sondern tausende. Jedes Wochenende.
Aber die Reitschule ist mehr: Sie ist «Bern's grungy underground scene and alternative-arts centre» (Lonely Planet), das «ultra-dynamische alternative Kulturzentrum» (le Guide du Routard). Hier gibt es das szenige Restaurant Sous le Pont; im Tojo Theater wurde die mehrfach preisgekrönte innovative Truppe Club 111 gegründet, die Multimediaspektakel Spaceboard Galuga 1-5 sind für Szenekenner unvergessen; war der Dachstock früher der Tempel der Hohepriester des Berner Rock von Kuno Lauener über Endo Anaconda bis Steff La Cheffe, breiten sich heute dort Electro-Parties aus, mit denen die 50-jährige Gründergeneration überfordert ist. Die Fernsehschweiz erinnert sich an den Eisenplastiker Bernhard Luginbühl mit dem sprühenden Vulkan auf dem Kopf, wie er durch die Reithalle marschierte.
Aber der Freiraum der Reitschule hat auch stets die Drogenszene angezogen, Dealer suchen Kundschaft. Und immer wieder: gewaltbereite Radikale aus der ganzen Schweiz, Testosteron versprühende Schlägertypen, die sich Zusammenstösse mit der Polizei zum Geburtstag wünschen. Dass diese Gewalt immer krassere Formen annimmt, hat weniger mit der Reitschule als mit gesellschaftlichen Tendenzen zu tun. Eine vernetzte und organisierte Szene von Unzufriedenen will keinen Dialog mit den Behörden, sondern ist süchtig nach dem «Kick», den ihr das Auslösen von Chaos und Zerstörung verschafft. So auch am letzten Wochenende. Verglichen mit der heutigen Gewaltszene, die den Freiraum Reitschule missbraucht, wirkt die Gewalt der Szene, die in den 80er Jahren die Reitschule besetzte schon fast nostalgisch.
Denn Berns Jugendkultur und Nachtleben entspringt nicht Konzepten und Strategien der Behörden. Vielmehr haben bewegte Szenen und Häuserbesetzungen entscheidende Entwicklungen in der Kulturgeschichte der Stadt bewirkt. Rückblende: Der Gaskessel im Marzili, erobert als Jugendzentrum der 68er; die Reitschule besetzt 1981 durch die «Berner Bewegung»; die Dampfzentrale, in einer denkwürdigen Sommernacht 1987 von der Musikszene unter den Nagel gerissen. Züri West liefert den Soundtrack: «We z Bärn mal öpper Kultur macht, chunnt meischtens nume d Polizei» (HansDampf). Es entstand eines der wichtigsten urbanen Kulturhäuser in der Schweiz. Und dass im innovativen progr (früher Progymnasium) heute 100 freie Künstlerinnen und Künstler in ihren Ateliers arbeiten, verdankt Bern der Kunstszene, die das Gebäude 2009 für sich eroberte und verhinderte, dass dort ein Wellness- und Shoppingcenter entstand.
Zurück zur Gegenwart: Es braucht eine engere Zusammenarbeit zwischen Reitschule, Stadt und Polizei als bisher, um das Kulturzentrum von der Gewaltszene zu befreien und zu schützen. Dazu gehört, dass die Reitschule die Polizei nicht als Feind sieht – sondern als Partner für die Befreiung von machohafter Gewalt. Positive Signale in dieser Richtung gab es bei den jüngsten Ausschreitungen. Ebenso müssen sich Politik und Polizei von Feindbildern, parteipolitischen «blinden Flecken» und Dogmen lösen und begreifen, dass es eine Kapitulation vor falschen Mächte bedeuten würde, wenn die Reitschule als soziokultureller Freiraum verschwindet.
Ziehen alle mit, wird die Reitschule als Kulturzentrum ebenso erstrahlen wie Stadttheater, Dampfzentrale und PROGR. Zäme geits!
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Autorenbeitrag in der Weltwoche zur Reitschule in Bern, Alec von Graffenried, 01.02.2017 (PDF, 154.7 KB) |