Ansprache zum Online Stadtplan «Bern Kolonial»
Ansprache von Stadtpräsident Alec von Graffenried, anlässlich der Lancierung des Online Stadtplans «Bern Kolonial» im Kunstmuseum, 29.August 2020.
(Es gilt das gesprochene Wort)
Geschätzte Anwesende
Es ist mir eine besondere Freude heute anlässlich der Lancierung des Online Stadtplans «Bern-Kolonial» ein kurzes Grusswort der Stadt Bern auszurichten.
Ich wurde bereits verschiedentlich gefragt, was ist das Interesse der Stadt Bern daran, sich mit ihrer kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen?
Meine Antwort ist: Die Geschichte eines Landes, einer Stadt prägt auch seine heutigen Einwohnerinnen und Einwohner.
Unsere Selbstwahrnehmung ist stark von dem Bild abhängig, das wir von uns und unseren Vorfahren haben.
Es liegt in der Natur der Menschen, dass wir aus unserem Leben lieber jene Geschichten erzählen, die uns schmeicheln, als andere, bei denen wir weniger gut rauskommen. Und wir legen uns unsere eigene Vergangenheit so zurecht, dass wir uns damit identifizieren können.
Und so wie das jede und jeder einzelne für sich persönlich macht und sich seine Geschichte zurechtlegt, so neigt auch die Gesellschaft als Kollektiv dazu, ihre Vergangenheit eher zu beschönigen.
Hässliches oder nicht mehr Zeitgemässes wird eher verschwiegen. Oder wenn, dann versucht man es beim Erzählen gleich zu relativieren oder zu rechtfertigen. So kommt es, dass die Geschichtsschreibung zum Erzählen von Heldengeschichten verkommt, und die Geschichte insgesamt wird romantisch verklärt.
Die Alte Eidgenossenschaft? Eine Aneinanderreihung von Heldensagen, Erfolgsgeschichten und Lausbubenstreichen. Die Vergangenheit insgesamt wird nostalgisch verklärt und beschönigt, die Geschichte wird selten als finster und schrecklich, sondern meist als die gute alte Zeit zusammengefasst.
Die anderen, nicht erzählten Geschichten bilden jedoch unterbewusst einen ebenso wichtigen Bestandteil unseres Daseins. Ihre Reflexion kann dazu beitragen, unser Funktionieren im Alltag, unser Herangehen an Probleme, ja die Probleme selbst in einem ganz anderen Licht zu sehen. Ein solcher Perspektivenwechsel tut gut und ist langfristig konstruktiv, auch wenn er kurzfristig unser Selbstbild dekonstruieren kann.
Ich weiss nicht, wann in der Geschichte eine umfassende Aufarbeitung erfolgt ist, ausser bei der Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland nach 1968.
Was wäre denn in Bern so alles aufzuarbeiten?
In erster Linie erinnere ich da an die kriegerische Vergangenheit des Alten Bern.
Oft wird kolportiert und durchaus nostalgisch bedauert, wie das bernische Staatsvermögen, der Staatsschatz in der französischen Besetzung nach Frankreich abgezügelt wurde. Zuletzt hat eine volkswirtschaftliche Betrachtung vor drei Wochen aufgezeigt, wie reich Bern heute wäre, wenn nicht… eben.
Selten oder nie wird aber erwähnt, dass dieses sagenhafte Vermögen vor allem durch Kriegsdienste angehäuft wurde. Im 17. und 18. Jahrhundert verdiente die Schweiz ein Vermögen, weil sie ihre jungen Männer in unvorstellbarem Ausmass auf den europäischen Schlachtfeldern opferte. Eine Oberschicht bereicherte sich am Tod der zahllosen jungen Männer. Das war ein grässliches Geschäftsmodell, das wir heute allenfalls aus den Jihadismus kennen und verurteilen.
Ihren Reichtum investierten die Eidgenossen wiederum in die damals wirtschaftlich erfolgreichsten Geschäftsfelder, zum Beispiel in den Sklavenhandel. In der Schweiz gab es zwar eklatante Klassenunterschiede, aber immerhin keine Sklaven.
Trotzdem partizipierte die Schweiz am weltweiten Sklavensystem, via Finanzierung. Das ist ein Geschäftsmodell, das uns heute immer noch vertraut ist. Die Schweiz finanziert diskret mit und verdient, ohne sich an vorderster Front engagieren zu müssen.
Der hier vorgelegte «Online-Stadtplan» von Bern ist der erste seiner Art in der Schweiz, vielleicht sogar in Europa. In vielen kleinen Puzzlesteinen werden die Spuren einer nicht-erzählten, verdrängten Vergangenheit heraufbeschwört.
Diese Spurensammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie ist sicher noch unendlich ergänz- und erweiterbar. Sie erhebt noch nicht einmal den Anspruch auf inhaltliche Kohärenz. Sie oszilliert zwischen geschichtlich/faktischer Aufarbeitung verdrängter Tatsachen und dem Beleuchten des heutigen Widerstands gegen das dadurch provozierte Selbstverständnis.
Ein Selbstverständnis nota bene, das noch heute die Strukturen des nationalen Zusammenlebens in der Schweiz prägt. Zum Beispiel auch bei Abstimmungen in Europafragen.
Ich habe ja das Privileg, in diesem Stadtplan direkt auf Namensvettern zu stossen. Sie sind nicht mit mir verwandt, aber durch den Namen werde ich natürlich direkt angesprochen.
Karl Wilhelm von Graffenried etwa war der Gründer und Eigentümer der Spinnerei Felsenau und Nationalrat in der Frühzeit des Bundesstaats.
Bern war ja nicht sehr industriell, ich war innerlich daher immer etwas stolz, dass die grosse Spinnerei, die ja heute noch steht, von einem von Graffenried gegründet worden war.
Dass die verarbeitete Baumwolle mit Sklavenhaltung in den USA produziert wurde, war mir jedoch nicht aktiv bewusst, obwohl es natürlich logisch ist, woher kam denn die Baumwolle sonst? Jedenfalls nicht aus dem Oberland.
Oder eben jener Christoph von Graffenried, der bei der Gründung von New Bern in North Carolina beteiligt war. Natürlich kannte ich seine Geschichte.
Ich kannte sie aber eben vor allem unter dem Aspekt der Auswanderung, der Emigration von Täufern nach Amerika. Es war für mich immer die Geschichte der schweizerischen Emigration, die Täufer, die aus der Schweiz verdrängt wurden. Dass sie ihrerseits die indigene Bevölkerung verdrängten, wusste ich zwar, dies stand jedoch nicht im Vordergrund.
Dabei zeigt gerade diese Geschichte exemplarisch, wie der schweizerische Kolonialismus funktionierte: Die Berner reisten nach London, erhielten von der Queen das Recht, sich das Land in den Carolinas anzueignen, und sie taten das auch, ohne Rücksicht auf Verluste bei der indigenen Bevölkerung. Das ist Kolonialismus in Reinkultur.
In der Weltgeschichte erscheint das aber nur als britischer Kolonialismus, die Schweiz bleibt diskret im Hintergrund, war aber aktiv beteiligt, wie das Beispiel zeigt.
Und so ging es mir bei der Betrachtung dieses «Online-Stadtplans» ganz ähnlich wie wohl Mani Matter. Er liess sich von seinem Namensvetter Bernhard Matter inspirieren. Dieser war ein Kleingauner bekannt, berühmt wurde er jedoch als Ausbrecherkönig, der dann in einem Schauprozess hingerichtet wurde.
Mani Matter hat also Ahnenforschung betrieben und stiess einzig auf den Gauner Bernhard Matter. Ahnenforschung und Geschichtsschreibung zu betreiben sei eben immer ein Risiko, hat schon Mani Matter gewarnt. Das hat er im berühmten Schluss des Lieds so gedichtet:
«Und wenn Dir ds Gfüel heit derdüre,
chönn nech sicher nüt obcho,
s chunnt uf z Mal en Unggle füre,
wo Dir nüt heit gwüsst drvo….!»
Die Stiftung Cooperaxion hat sich – ohne Angst - an diese Mammutaufgabe gemacht. Schon früher hat sie ja über Jahre als einzige in der Schweiz eine Datenbank gespiesen, die über die Verstrickungen der Schweiz mit dem Sklavenhandel Auskunft gibt.
Vor dem «Online-Stadtplan» hat Cooperaxion bereits mit der Ausstellung zum transatlantischen Dreieckshandel, mit Stadtführungen und mit Bildungsmaterialien für Schulen den Versuch unternommen, diesen Teil unserer Geschichte bekannter zu machen, unter die Leute zu bringen, mit ins Bewusstsein zu rücken.
Ich bin stolz darauf, dass sich die Stadt Bern finanziell an diesem Produkt beteiligt hat. Damit wurde gleichzeitig auch ein Postulat aus dem Stadtrat von Halua Pinto de Magalaes erfüllt, das eine solche Inventarisierung von Spuren gefordert hatte.
Die Stadt Bern hat sich so an der Aufarbeitung beteiligt, noch bevor die Auseinandersetzung mit der Geschichte im Zuge der globalen Proteste gefordert wurde.
Natürlich wird die Eröffnung dieses breiten Zugangs zur Geschichte auch bereits kritisiert. Auf der einen Seite wird befürchtet, das sei seriöser Geschichtsforschung abträglich. Es würden nun vorschnell unbequeme Zeugen der Vergangenheit beseitigt, wie der Chindlifrässerbrunnen oder die Figur am Zunfthaus zu Mohren.
Es ist jedoch wichtig, dass solche Projekte für eine breite Öffentlichkeit einen Zugang zum Thema öffnen, als Ergänzung zur Forschung, die es natürlich schon länger gibt.
Eine solide, faktenbasierte Aufarbeitung der «Schattenseiten» unserer Geschichte auch in der Öffentlichkeit ist eine wichtige Garantie dafür, dass Fakten nicht nach ideologischem Gutdünken zurechtgebogen und interpretiert werden. Damit kann die Grundlage für die Errichtung eines diskriminierungsfreien Zusammenlebens gestärkt werden. Erst wenn diese solide Grundlage gelegt ist, kann dann auch entschieden werden, wie wir mit den Zeugnissen umgehen sollen. Die Aufarbeitung der nötigen Informationen und die Diskussionen darüber sind wichtige Grundlagen. Mit diesem Stadtplan legen wir einen weiteren Grundstein für diese Debatte.
In diesem Sinne wünsche ich ihnen einen spannenden Nachmittag und viel Vergnügen beim Entdecken von Geschichte und Geschichten, die Sie bisher so noch nicht gekannt haben.
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Lancierung des Online Stadtplans «Bern Kolonial», Alec von Graffenried, 29.08.2020 (PDF, 304.0 KB) |