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Abschied Markus Raetz

28. August 2020

(Es gilt das gesprochene Wort)

Liebe Monika
Liebe Angehörige, Freunde, Wegbegleiterinnen

Mit Markus Raetz verlieren wir, verliert auch die Stadt Bern, einen grossen Künstler und feinsinnigen Menschen. Ich habe, schon lange bevor ich Stadtpräsident wurde, verstanden – und es sicher auch oft gesagt: Markus Raetz ist für mich der bedeutendste lebende Berner Künstler.

Das sagte sich leicht, gemeint mit Respekt, als grosses Kompliment. Erst jetzt, wenn ich mir selber zuhöre, dann höre ich die Adjektive. Der bedeutendste Berner Künstler … und warum nicht einfach der bedeutendste Künstler, Punkt?

Schon Ende der 1960er-Jahre hat Harry Szeemann die Werke des 28-jährigen Markus Raetz gezeigt, in der Kunsthalle zusammen mit den 40 Grössten und Einflussreichsten seiner Zeit, aus Amerika, Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Holland und Italien…und äbe: ein Berner.

Markus Raetz, ein Künstler von Weltrang, aber irgendwie halt auch ein typischer Berner. Vielleicht weil sein Schaffen doch so etwas wie eine bernische Eigenart verkörpert: sorgfältig entwickeln, bedächtig abwägen, mit einem Augenzwinkern präsentieren. 

In Bern wird Markus Raetz denn auch besonders geschätzt. Ja, er wird verehrt. Er ist aber bei all dem internationalen Erfolg immer auch zugänglich geblieben, einer von uns

Es ist so ein Klischee… ein Künstler lebt fort in seinem Werk. Aber bei Markus Raetz muss ich sagen, da stimmt das eben schon. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand eine Begegnung mit seinen Werken je vergisst. Die Werke von Markus Raetz sind ja voller Experimentierfreude, voller Bewegung und Transformation. Man schaut sich da nicht etwas Fertiges an, sondern nimmt teil an einem Ereignis, an der Erfahrung des Künstlers bei der Schaffung des Werks. Die Skulpturen und Mobiles erzählen uns seine Einfälle und seine Entdeckungen. Durch seine Werke spricht Markus Raetz mit uns, immer, wenn wir sie betrachten. Und das bleibt auch in Zukunft so. 

Ein jedes Ding hat viele Seiten. Wer etwas erkennen will, muss sich der eigenen Perspektive bewusst werden. Wer den Standpunkt verschiebt, wird mit neuen Einsichten belohnt. Das ist ein physikalisches Phänomen, und es ist in der Kunst von Raetz erlebbar. Der Wechsel der Perspektive ist ein physikalisches Phänomen, aber eben auch eine Einsicht und ein Grundsatz, die mich selber in der Politik und im Leben begleitet. Die Fähigkeit und Bereitschaft zum Perspektivenwechsel ist eine Haltung, die ich für gesellschaftlich und politisch dringend nötig halte, heute mehr denn je. Mich dünkt allerdings, in Bern ist diese Fertigkeit eher besser ausgeprägt als andernorts. Und es ist bestimmt kein Zufall, dass der Perspektivenwechsel ein zentrales Element in der Kunst von Markus Raetz ist.

Die Neigung oder die Fähigkeit, abzuwägen, verschiedene Standpunkte einzunehmen, ist eben eine typische Berner Eigenart. Ein anderer grosser Berner, Mani Matter, hat das sehr schön formuliert (Zitat): «Dass einer von einem Standpunkt aus, den wir nicht teilen, seine Betrachtungen anstellt, heisst nicht, dass diese Betrachtungen für uns wertlos sind. Es ist möglich, dass er von dort aus Dinge sieht, die uns von unserem Standpunkt aus entgehen.» Im Jahr 1968 beginnt Mani Matter ein Gedicht, das einem denn auch grad an Markus Raetz denken lässt. Es heisst:

«D’metallplastik»

im museum han i mal, e
monet här isch’s oder meh
zhinderscht imne näbesaal e
ganz e nöiji plastik gseh
hundertdrüh metallquadrätli
näbe- hinder- überenand
und verbunde mittels drähtli
frei im ruum vor wysser wand 

je nachdäm wo me isch gstande
und wi me der chopf het gha
het me vor der wysse wand e
s anders bild gseh drin entstah
hesch zum byspil zersch e ryter
höch zu ross mit lanze gseh
dräisch dr chopf es bitzli wyter
und scho isch es en armee 

dampfschiff, chüe, dr albert schweitzer
d’füürwehr, palme, ds meer bi nacht
het me d’plastik liecht bewegt, het
ds meer sogar no wälle gmacht
alls isch drinne z’gseh gsy, ds ganze
was es git uf dere wält
sache, mönsche, tier und pflanze
d’sunne, d’stärne – nüt het gfählt 

i ha gstuunet bis am abe
wo ds museum zueta het
u für zmorndrischt wider z’gah bin
i voll ungeduld i ds bett
doch ir nacht het eis quadrat sich
glöst, isch abgheit vo sym draht
zmorndrischt het me nüt meh gseh als
hundertzwöi metallquadrat

Mani Matter hat die Kunst von Markus Raetz damit in Worte gefasst.

Beide haben in den 60er-Jahren in Bern gelebt, und die Frage drängt sich auf: Haben sie sich denn nicht gekannt? Wir sind dem nachgegangen, und tatsächlich hat Mani Matter dem 5 Jahre jüngeren Markus Raetz bereits 1965 ein Bild abgekauft. Es ist übrigens ein typisches Bild für einen Wortkünstler, denn es besteht nur aus Worten, ein mit Worten gezeichneter Kopf. Die beiden grossen Berner Künstler hatten also nicht nur eine Berner Seelenverwandtschaft, sondern sie haben sich auch tatsächlich gekannt und gegenseitig inspiriert.

Markus Raetz ist also ein Berner Künstler, weil er eine typische Berner Eigenart verkörpert und zum Ausdruck bringt.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ein Nachmittag im Atelier von Markus Raetz an der Laubeggstrasse – an einem Sommertag ganz ähnlich wie heute – ein Austausch mit Markus Raetz gehört zu meinen wertvollsten Erlebnissen und Erinnerungen als Stadtpräsident. Und so sage ich es jetzt nochmals, auch wenn ich natürlich weiss, was wir am Menschen verloren haben: Für mich bleibt Markus Raetz der bedeutendste Künstlerder in seinem Werk fortlebt und – ein Berner.

Alec von Graffenried
Stadtpräsident 

 

Aphorismus aus:
Mani Matter, Tagebuch IV 1969-1971, in: Sudelhefte, 1974, S. 137

Gedicht aus:
Mani Matter, Einisch nach emene grosse Gwitter , Zürich (Ammann Verlag) 2003, S. 55

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