Stadtpräsident Alec von Graffenried zum 1. August
In seiner traditionellen Ansprache anlässlich des Empfangs der internationalen Gemeinschaft in Bern am 1. August stellt Stadtpräsident Alec von Graffenried die Bedeutung der Demokratie für die nachhaltige Entwicklung der Welt ins Zentrum.
Sehr geehrte Damen und Herren
liebe Bernerinnen und Berner
liebe Gäste
Am 1. August, an unserem Nationalfeiertag, fragen wir uns oft: Was macht denn die Schweiz aus? Die Antwort lautet meistens und zu Recht: es ist unsere Demokratie. Unsere direkte Demokratie, unsere demokratische Tradition. Der 1. August ist somit eigentlich vor allem eine Feier unserer schweizerischen Demokratie. Sprechen wir über die Demokratie! Schauen wir doch, wie steht es mit der Demokratie in der heutigen Welt?
Wir befinden uns ja mitten im weltweiten Superwahljahr 2024! Die Wahlen in Indien, in England, in Frankreich, im Iran, Mexiko, Südafrika sowie die Europawahlen unter anderen sind vorbei. Es gab auch hoch umstrittene Wahlen, so wurde auch in Russland und diese Woche in Venezuela sogenannt «gewählt». Im November folgen dann gewissermassen als Finale die Präsidentschafts- und Kongresswahlen in den USA, mit dem Duell der Vizepräsidentin Kamala Harris gegen den Ex-Präsidenten Donald Trump. Noch nie konnten in einem Jahr so viele Menschen wählen wie 2024. Und dann wählen wir ja auch noch in der Stadt Bern!
Also ein Demokratierekord? Die vielen Wahlen auf der Welt dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Demokratie weltweit nicht auf einem Erfolgskurs befindet. Beim näheren Hinsehen erweisen sich viele der sogenannten Demokratien als eigentliche Autokratien. 2009 gab es 44 liberale Demokratien auf der Welt. Im letzten Jahr galten noch 32 Staaten als offene, demokratische, liberale Rechtsstaaten. Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt nicht in einem freiheitlichen demokratischen System. Auch wenn viele Menschen wählen konnten, die Qualität der Demokratie ging weltweit in den letzten 15 Jahren zurück. Auch in der Schweiz haben viele das Gefühl, dass sich die Qualität unserer Demokratie verschlechtert.
Warum ist das wichtig? Warum spreche ich an einem Nationalfeiertag über die internationale Entwicklung? Die fragile internationale Lage, die Kriege in der Welt, beeinträchtigen auch das Leben in der Schweiz und in Bern. Ich selber, aber auch die Bevölkerung in Bern leidet mit. Das sage ich nicht einfach so. Wir befragen unsere Bevölkerung, und wir erhalten auch diese Rückmeldung. Wir leiden mit den Opfern in Charkiv und Kyiv; wir leiden mit den Opfern in Israel und Gaza; wir leiden mit den Opfern in Darfur, Somalia und im Jemen. Die Kriege und die schlechte Verfassung der internationalen Politik bedrücken die Menschen, sie sind eine reale Last und beeinträchtigen die Lebensqualität. Wir leben auch am 1. August nicht nur in Bern und in der Schweiz. Gerade auch am Nationalfeiertag können wir uns nicht nur um die Schweiz kümmern. Wir leben in einer globalisierten Zeit und Gesellschaft. Das Schicksal der Welt geht auch uns an.
Wetter und Klima
Themawechsel. Haben Sie’s schon bemerkt? Ich habe noch gar nicht über das Wetter gesprochen, das grosse Thema dieses Sommers.
Natürlich spreche ich am 1. August nicht übers Wetter. Denn in Zeiten des Klimawandels wissen wir: Das Wetter ist, wie es ist – beeinflussen können wir einzig das Klima.
Und dieses Klima hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt und zwar nicht nur meteorologisch! Auch das politische Klima verschlechtert sich.
Die Macht der sozialen Medien
Ich frage mich oft, was der Grund für die Verschlechterung des politischen Klimas ist. Was bringt Menschen dazu, extreme und damit meine ich antidemokratische Haltungen einzunehmen und zu vertreten? Wir hatten schon früher Krisen, doch schon lange wurden Debatten nicht mehr so hässig und Kampagnen so schmutzig geführt wie heute. Das sehen wir bei fast allen Wahlen weltweit.
Einer der Gründe liegt für mich in der Selbstverantwortung: Es gibt einen Bereich in unserem Leben, der fast nicht reguliert ist und wo wir deshalb umso mehr Selbstverantwortung übernehmen sollten. Es ist dies der Bereich der Sozialen Medien. Wir stellen mehr und mehr fest, dass Respekt, Wertschätzung, Empathie in vielen Bereichen der sozialen Medien verloren gehen. Die sozialen Medien werden zu asozialen Medien.
Ich erlebe dies wie viele Politiker*innen am eigenen Leib. Als Stadtpräsident werde ich oft auf der Strasse angesprochen. Diese Begegnungen sind eigentlich immer sehr respektvoll und sympathisch. Die Menschen bedanken sich für meine Arbeit, loben gewisse Projekte oder wollen einfach freundlich grüssen. Auch kritische Anmerkungen werden mir in der persönlichen Begegnung fast immer anständig vermittelt.
Ganz im Gegenteil zur digitalen Welt! Lesen Sie manchmal Online-Kommentare oder verfolgen Sie eine Debatte in den Sozialen Medien? Hier wird geschimpft, geflucht und kritisiert. Die häufigste Regung in den sozialen Medien ist die Verächtlichkeit. Das stimmt mich nachdenklich. Die sozialen Medien würden uns einen Raum eröffnen für vielfältige soziale Kontakte. Sie werden aber im politischen Bereich je nach Kanal nicht selten für asoziale Äusserungen und für Verächtlichkeit gebraucht. Was lange tabu war, ist heute in den sozialen Medien gang und gäbe. Tabubruch als Normalfall.
Krieg in der Ukraine
Warum werden Tabubrüche normal? Was ist der grösste Tabubruch? Viele Politiker – weniger Politikerinnen – lieben es, Tabus zu brechen. Mit simplen Formeln lässt sich punkten. Für Ex-Präsident Trump ist es sein Erfolgsrezept. Nicht so mein Ding.
Der grösste Tabubruch der letzten Jahre ist jedoch der Angriff Russlands auf die Ukraine.
Dabei wurden sämtliche Regeln der internationalen Zusammenarbeit und des Völkerrechts grob verletzt. Respekt, Menschenwürde, Freiheit, Schutz von Menschenleben, alles wurde missachtet. Russland bzw. der russische Präsident glaubt offenbar, schwere und abscheuliche Kriegsverbrechen ohne Ahndung begehen zu können. Er hat damit den grössten Rechtsbruch und Tabubruch der letzten Jahrzehnte weltweit begangen. Und er ebnet damit den Weg für Tabubrüche auf allen Ebenen.
Die weltweiten gemeinsamen Werte werden dabei mit Füssen getreten und mutwillig zerstört. Das ist inakzeptabel. Denn eigentlich hatten wir diesen Teil unserer Geschichte längst hinter uns gelassen. Denn eigentlich wissen wir es besser!
Zusammenarbeit führt zum Erfolg!
Das friedliche Miteinander in Europa und auf der Welt basiert auf der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit der Nationen. Diese Lehre zog man, nachdem man sich mit und während zwei Weltkriegen praktisch selbst zerstört hatte. Seit fast 80 Jahre verbessert das Konzept Zusammenarbeit & Kooperation Frieden und Wohlstand auf der Erde.
Was war der grösste Erfolg der Weltgemeinschaft bisher? Der grösste Erfolg waren die Millenium Development Goals von 2000 bis 2015. 2015 konnte die UNO feststellen, dass die ehrgeizigen Entwicklungsziele erreicht und teilweise übertroffen werden konnten. So konnte die Armut, der Hunger und die Kindersterblichkeit in der Welt von 2000 bis 2015 markant reduziert werden.
Die Millenium Goals waren somit ein grosser Erfolg. Die UNO setzte sich daher für 2030 neue, noch ehrgeizigere Ziele ein, die Sustainable Development Goals, die SDGs.
Leider ist die Weltgemeinschaft bei der Erreichung der SDGs nicht mehr so erfolgreich unterwegs wie bei den Millenium Goals. Die UNO, wir alle, wir werden die SDGs nicht erreichen. Die wichtigsten Ziele sind sicherlich die Bekämpfung der Sterblichkeit, die Bekämpfung des Hungers, die Bekämpfung der Armut. Gerade letzte Woche hat die Food and Agriculture Organization der UNO, die FAO, informiert, dass die Ziele zur Bekämpfung des Hungers nicht erreicht werden können. Im Gegenteil, die Hungerbekämpfung stagniert. Zero Hunger werden wir bis 2030 nicht erreichen. Das ist ja auch kein Wunder, da die wichtigen Produktionsländer Russland und Ukraine durch die Kriegswirtschaft an der Landwirtschaft gehindert werden.
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist das exakte Gegenteil einer weltweiten Zusammenarbeit und zerstört den Frieden in der Welt, die Basis jeder Zusammenarbeit. Deshalb ist es wichtig, gegen diesen Tabubruch einzustehen, dieses Verbrechen immer wieder zu benennen.
Kriege behindern die Entwicklung und das Erreichen der gemeinsamen Ziele
Der Krieg wirft die ganze Welt um Jahrzehnte zurück. Der Krieg verhindert, dass sich die Staatengemeinschaft mit voller Kraft um die wichtigen Herausforderungen kümmern kann.
Der Zusammenhang ist offensichtlich: Wenn wir weltweit nicht zusammenarbeiten, können wir die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung nicht erreichen. Am schlimmsten für die weltweite Zusammenarbeit sind die Kriege. Die grossen weltweiten Herausforderungen wie die Erreichung der SDGs können wir nur dann meistern, wenn wir den Weg aus der Konfrontation zurück in die Kooperation finden. Die SDGs können wir nur gemeinsam erreichen, durch weltweite Zusammenarbeit.
Mehr Demokratie in der Welt ist also eine Voraussetzung, dass wir weltweit besser zusammenarbeiten, und somit die wichtigen Ziele erreichen können.
Demokratie lohnt sich!
Und es lohnt sich, für die Demokratie einzustehen, denn:
- Die Demokratie zu stärken heisst, den Frieden und die Sicherheit zu fördern. Demokratien führen keine Kriege gegeneinander.
- Die Demokratie zu stärken heisst, die Wirtschaft zu fördern. Denn in Demokratien ist das Wirtschaftswachstum grösser, das Wachstum ist gerechter und Finanz-Krisen sind weniger schlimm.
- Die Demokratie zu stärken heisst, die globale Gesundheit zu fördern. Denn in Demokratien nehmen Kindersterblichkeit und frühzeitige Todesfälle ab und die allgemeine Lebenserwartung steigt.
Das sind alles Vorteile, die uns allen zugutekommen. Mehr Demokratie bedeutet ein besseres Leben für mehr Menschen auf dieser Welt! Und mehr Demokratie bedeutet mehr Selbstbestimmung und Freiheit!
Wenn wir heute am 1. August über die Demokratie in der Schweiz sprechen, dann müssen wir uns auch eingestehen, dass das nicht genug ist. Die Schweiz ist nicht genug! Wir müssen die Demokratie weltweit stärken, wir müssen die Zusammenarbeit weltweit verbessern. Nur in einer Welt, in der gemeinsame Ziele verfolgt werden und in der diese Ziele durch internationale Kooperation auch erreicht werden, kann auch die Schweiz ein glückliches Land sein. Die Stärkung der Demokratie schafft dafür die besten Voraussetzungen. Lassen Sie uns daher hier und heute beginnen. In Bern. In der Schweiz. Überall.