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1. August 2022 | Gemeinderat, Direktionen

Stadtpräsident Alec von Graffenried zum 1. August

In seiner traditionellen Ansprache zum 1. August verurteilte Stadtpräsident Alec von Graffenried den Angriffskrieg der russischen Führung gegen die Ukraine. Unter dem Titel «Meh Hemmige» erinnerte er daran, dass Mani Matter bereits vor über 50 Jahren vor der Hemmungslosigkeit gewarnt hatte. 2022 jährt sich der Todestag des Chansonniers zum 50. Mal. Aus diesem Anlass würdigte der Stadtpräsident das überragende künstlerische und wissenschaftliche Werk Matters.

Stadtpräsident Alec von Graffenried
Bild Legende:

«S'git Lüt, die würdet alletwäge nie
Es Lied vorsinge, so win ig jitz hie
Eis singe um kei Priis, nei bhüetis nei
Wil si Hemmige hei …»

Dieser Vers stammt vom Berner Chansonnier Mani Matter, es ist eine seiner berühmtesten Liedzeilen. Mani Matter ist 1972, also vor 50 Jahren gestorben.

Wir feiern heute unseren Nationalfeiertag, wir feiern das friedliche Zusammenleben hier in der Schweiz und Europa. In diesem Jahr begehen wir unseren Nationalfeiertag allerdings in einer Periode einer echten Krise. Man sollte diese Worte nicht unbedacht verwenden, aber aktuell treffen sie leider zu. Seit dem 24. Februar erleben wir einen Krieg, wie wir ihn in Europa seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gesehen haben.

Es ist nicht ein Krieg zwischen zwei Staaten oder gar zwei Völkern, sondern es ist ein ruchloser, hinterhältiger Angriff eines terroristischen Diktators auf ein demokratisches Nachbarland, auf die Ukraine. Die Ukraine, die auf dem Weg war, ein friedliches und demokratisches Mitglied der Staatengemeinschaft zu werden. Mit dem russischen Überfall sind auch die Kriegsverbrechen, ist der Staatsterrorismus und der Faschismus nach Europa zurückgekehrt, was ich in dieser Form nie für möglich gehalten hätte. Ich bin froh, dass bereits jetzt die nötigen Beweise gesichert werden, um die Verbrechen später auch aufklären zu können.

Das ist nicht das Thema unseres Nationalfeiertages. Am 1. August wollen wir unsere Gedanken darauf verwenden, wie die Gesellschaft zusammengeführt werden kann, wie ein solides Fundament für ein friedliches Zusammenleben gestaltet werden kann. Nicht Hass, Krieg und Zerstörung ist das Ziel unseres Zusammenlebens und letztlich auch die Kunst der Politik, sondern das Schaffen von Frieden und Ausgleich. Das streben die Schweiz und Europa nun seit Jahren an.

Der französische Botschafter in der Schweiz, Frédéric Journès, drückte es am 14. Juli 2022 sehr treffend aus: «Ce n’est pas toujours facile ici, mais c’est notre devoir dire que l’Europe, c’est bien… C’est compliqué, on n’est pas d’accord sur tout, mais ça fonctionne et ça avance.» 
Er hat in Erinnerung gerufen, dass wir nur dank der europäischen Einigung und der Europäischen Union von dieser langen Friedensperiode profitieren konnten. Nur ein geeintes Europa ist ein starkes Europa. Auch nach dem Kriegsausbruch ist Europa pluralistisch geblieben, aber Europa ist geeinter denn je. Europa ist stärker, souveräner und auch sozialer als je zuvor – dank der Europäischen Union.
Wer sich seiner eigenen Identität sicher ist, ist offener gegenüber Fremden und sicherer im Umgang damit. Ich bin Mensch, ich bin Berner, ich bin Schweizer und ich bin Europäer. Die Schweiz ist unsere Heimat, und die Heimat der Schweiz ist Europa, so hat es Peter von Matt einst am 1. August genial auf den Punkt gebracht.

Ich war letzte Woche in Sarajevo. Im Rathaus von Sarajevo wurde ein Museum eingerichtet zur Erinnerung an die Kriegsverbrecherprozesse der letzten Jahre wegen des Bosnienkrieges. Bosnien zeigt uns zwei Dinge. Auf der einen Seite wurden die Kriegsverbrechen konsequent verfolgt und die Kriegsverbrecher dem Gericht zugeführt, damit wurden die Kriegsverbrechen rechtsstaatlich geahndet, damit wurde ein Schlussstrich gezogen. Auf der anderen Seite hat der Krieg tiefe Wunden geschlagen und eine zerrissene, vom Nationalismus zerfressene Politlandschaft zurückgelassen. Die Situation in Bosnien erscheint ausweglos. Nur Kraft und Energie von ausserhalb, ein Beitritt zur Europäischen Union, scheint in der heutigen Lage die Situation in Bosnien mittelfristig befrieden zu können. Nur mit der Hilfe und Unterstützung aus Europa wird Bosnien wieder auf die Beine kommen und aus der Sackgasse herausfinden.

Der heutige Krieg gegen die Ukraine erinnert in vielem an die Kriege in Ex-Jugoslawien. Hass kann geschürt werden, Gesellschaften können gespalten werden. Dafür braucht es nationalistische oder rassistische Ideologien, dafür braucht es aber auch rücksichtlose, hemmungslose Kriegsverbrecher.

Mani Matter hat dies bereits vor über 50 Jahren vorhergesehen. Die letzte Strophe des Lieds «Hemmige» lautet wie folgt:

«Und we me gseht, was hütt dr Mönschheit droht
So gseht me würklech schwarz, nid nume rot
Und was me no cha hoffen isch alei
Dass si Hemmige hei.»

Mani Matter hatte einmal geäussert, dass «Hemmige» zu haben die wichtigste Kulturleistung der Menschheit seien. Hemmungen zu haben und nicht jedem Trieb oder jeder Boshaftigkeit nachzugeben, ist eine wichtige soziale Errungenschaft, unerlässlich für das friedliche Zusammenleben. Für den Ukrainekrieg haben sich seine Hoffnungen leider zerschlagen, hier hat die russische Führung sämtliche Hemmungen abgelegt.

Mani Matter ging leider viel zu früh von uns: Er wurde nur 36 Jahre alt. Er verstarb vor 50 Jahren, im November 1972 bei einem Autounfall auf dem Weg zu einem Auftritt. In drei Tagen wäre sein 86. Geburtstag. Doch er hat uns trotz seines kurzen Lebens ein umfassendes Werk hinterlassen, dieses Werk ist präsent und populär wie eh und je. Seine Lieder werden gesungen, sie werden gecovert, sie werden geliebt. Gerade wieder ist eine neue Generation von Musiker*innen daran, seine Texte für sich zu entdecken: Auf TikTok sang zum Beispiel der junge Rapper Luca Lang alias Pato jüngst Mani-Matter-Lieder. Oder die Fans im Wankdorf sangen auch gestern wieder Mani-Matter-Lieder als Fangesang.

Spannend ist Mani Matter aber vor allem, weil seine Lieder ungeheuer gehaltvoll sind, weil sie auf einem breiten philosophischen, staatswissenschaftlichen und soziologischen Wissensfundament aufgebaut sind, das durchaus taugt, das friedliche Zusammenleben in der Schweiz zu erklären. 

Mani Matter war von Beruf Jurist und arbeitete zuletzt als Rechtskonsulent für die Stadt Bern. Bevor er sehr praktisch als Jurist für die Stadt Bern zu arbeiten begann, widmete er sich vor allem der Wissenschaft, mit Schwerpunkten in der Staatstheorie und der Ideengeschichte. Das Schreiben und Singen fanden in der Freizeit statt. Er sagte von sich selbst, dass er einerseits am Funktionieren der Zivilisation arbeite, er andrerseits die Leute mit Liedern unterhalte. Diese Unterhaltung mit dem Publikum nahm er sehr ernst – und nahm sich entsprechend Zeit dafür.

Mani Matter arbeitete wie gesagt lange Jahre wissenschaftlich und befasste sich vor allem mit dem friedlichen Zusammenleben im Staat. Entsprechend seiner differenzierten und zutiefst demokratischen Überzeugung widmete er sich intensiv der Pluralismustheorie, zu der er eine umfassende Übersicht verfasste. Ganz offensichtlich überzeugten ihn die pluralistischen Ansätze auch, die einem starken Staat einen von der pluralistischen Gesellschaft getragenen Konsens entgegenstellen. Ein weiteres Zitat Mani Matters illustriert dies sehr gut: «Dass einer von einem Standpunkt aus, den wir nicht teilen, seine Betrachtungen anstellt, heisst nicht, dass diese Betrachtungen für uns wertlos sind. Es ist möglich, dass er von dort aus Dinge sieht, die uns von unserem Standpunkt aus entgehen.» 

Immer wieder erzählt uns Mani Matter Geschichten, die in kleinere oder grössere Katastrophen münden, oder eben gerade noch glimpflich ausgehen.

  • In «I han es Zündhölzli azündt» erfahren wir zum Beispiel, wie ein Zimmerbrand und damit ein dritter Weltkrieg verhindert werden kann. 
  • «Si hei dr Willhelm Täll ufgfüehrt» veranschaulicht hingegen, wie eine Theateraufführung von Wilhelm Tell im Dorf in ein tumultuöses Gemetzel mündet.

In «Dene wo’s guet geit» beschreibt er in zwei knappen Strophen gleichzeitig den Nutzen und die Grenzen des Sozialstaats.

Mani Matters Texte waren fantasie- und humorvoll. Seine Reime und Sprachspielereien bleiben im Berndeutsch das Mass aller Dinge. Doch die wahre Genialität erschliesst sich einem oft erst im Laufe der Zeit, wenn die Texte, die man einst nur lustig fand, von der Realität eingeholt werden und so noch zusätzlich an Tiefe gewinnen. Im Lied «Dynamit» rettet Mani Matter die Demokratie in der Schweiz, da er einen Terroranschlag auf das Schweizer Parlamentsgebäude verhindert. Er überredet den Terroristen aus Liebe zur Schweiz auf seinen Anschlag zu verzichten. Auch dies eine Szene, die seit dem 6. Januar des letzten Jahres mit dem Sturm auf das Kapitol wie eine Vision anmutet.

«Loufi am Bundeshuus sider verbii,
muesi geng dänke ‘s schteit nume uf Zit,
es länge fürs z’spränge es paar Seck Dynamit.»

Mani Matter war ein versierter Denker und ein Verfechter der Demokratie: «Nur wer die Demokratie bankrott erklärt, kann es undemokratisch nennen, darauf zu drängen, dass die Fähigsten die hohen Ämter erhalten.» Er war auch ein kritischer Bürger, der auch unpopuläre Gedanken kundtat: «‹Die Hunde bellen; die Karawane schreitet weiter.› – Vielleicht ist es doch besser, zu den Hunden zu gehören; sie haben wenigstens noch gebellt.» Vor allem aber war Mani Matter ein Menschenfreund, ein differenzierter Denker, der überdies über einen ungemeinen Sprachwitz und viel feinsinnigen Humor verfügte. Und er hat uns mit unendlich vielen unvergesslichen Geschichten und starken Bildern beschenkt, und dabei vom Alpenflug über den Boxkampf bis zur Bürokratie, vom Eskimo über den Coiffeur bis zu Sidi Abdel Assar nichts ausgelassen.

Mani Matter ist also gewissermassen unser Nationaldichter hier in Bern. Er hat viele Gedanken formuliert, die unser Lebensgefühl wiedergeben, sei es in seinem künstlerischen oder in seinem wissenschaftlichen Werk. Kaum eine andere Persönlichkeit hat Bern im letzten Jahrhundert so geprägt wie Mani Matter. 50 Jahre nach seinem Tod erinnere ich mich dankbar an sein engagiertes Leben und Wirken zurück.

Liebe Bernerinnen und Berner, wir haben in den letzten Jahren viele zynische, verächtliche, oder gar verbrecherische Figuren in der Weltpolitik erleben müssen. Welch ein Privileg ist es für uns hier in Bern, dass unsere Kultur und unser Lebensgefühl durch einen Künstler und Menschen wie Mani Matter geprägt wurden. Er bietet uns viel Common Sense und Orientierung in turbulenten Zeiten. Ich wünsche Ihnen einen besinnlichen 1. August!

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